Sanssouci
: Vorschlag

■ „Archeologia“ von Alexej Schipenko in der Schaubühne

Die Schaubühne setzt ihre Ausgrabungsarbeiten im russischen Untergrund fort: Nach „Nachtasyl“ und „Letzten Sommer in Tschulimsk“, beide von Andrea Breth zelebriert, hat Ernst Stötzner in der Kreuzberger Probebühne Alexej Schipenkos „Archeologia“ inszeniert. Mit „Nachtasyl“ verbindet Schipenkos neues Stück das marginalisierte Personal – gesellschaftlicher Bodensatz: „Soziale Randgruppe auf dem Weg zu sich selbst“ (um es mit den treffenden Worten der Band „Blumfeld“ zu sagen).

Das Stagnationsdrama der Breschnewzeit „Letzten Sommer...“ wird von „Archeologia“ quasi fortgesetzt: Nach der sozialistischen Apathie die postsozialistische Mischung aus Depression und hysterischen Ausbrüchen. Die Szene im kleinen Bühnenraum der Cuvrystraße: eine heruntergekommene Autowerkstatt. Nicht nur eine rote E-Gitarre, die dekorativ an der Wand lehnt, erinnert an die Atmosphäre in Sam Shepards amerikanischen Trivialmythen-Dramen: Auch die jungen Leute, die das Stück bevölkern, träumen von gods own country: geliehene Sehnsüchte, Träume aus der Retorte – von Rock 'n' Roll bis zur Mondlandung. Das Beste, was man in dieser Tristesse machen kann, ist, sich aus ihr herauszuträumen, auch wenn man dazu eine Dosis Spiritus und eine größere Dosis Selbstbetrug braucht.

Das Zentrum des Raumes ist die Grube, in der man normalerweise steht, um die Unterseite von Autos zu bearbeiten. Hier wird darin geschlafen und, am Ende, gestorben. Aber schon vor der ersten Leiche ist es ein Todesort. Spätestens als Dörte Lyssewski mit einem Messer in der Hand in die Grube hinuntersteigt, wird sie als Grab lesbar: Lyssewski spielt eine Frau, die eben knapp einen Suizidversuch überstanden hat. Ihr Verschwinden in der Grube zeigt überdeutlich, daß für sie der Tod noch immer der entscheidende Fluchtpunkt ist. Lyssewski als Frau des verkrachten Dichters Ljoscha (gespielt von Ulrich Matthes) ist, neben Matthes, das schauspielerische Kraftzentrum der Inszenierung: Hat sie früher an der Schaubühne immer Mädchenrollen gespielt, ist sie hier mit fester Stimme und in sich gekehrtem Blick als vom Leben Verwüstete zu entdecken: Alles mädchenhaft-leichte, jeder Hauch von Unschuld ist längst zerbrochen. Nach dem Freitodversuch spielt sie sich, im engen grauen Kostüm, als Dame – als ließe sich so, durch die äußere Eleganz der Schmutz der Umgebung, das eigene Elend bannen. Neben ihr und an ihr vorbei agiert Matthes hektisch und übernervös. Hinter seinem penetranten Lächeln und Grinsen, seinem aufgedrehten Gerede ist eine gereizte Anspannung, eine sprachlose Not spürbar. Wie alle Figuren des Stückes ein Opfer, ohne daß erkennbar wird, wovon sie so zerquetscht wird.

Auch der zweite Ort ist von Todesphantasien beherrscht: Die kleine Bühne, die in Grübners Inszenierung „Catharina von Siena“ am gleichen Ort wie ein sakraler Raum bespielt wurde, wird hier im kaum veränderten Raum zum tristen Strand. Neben den jugendlichen Desperados tauchen zwei Alte auf, ein Kriegsveteran und eine verwirrte Lehrerin, die sich nach dem Tod sehnt: Ihr Mann soll sie im Sand begraben. Nur seine Erinnerung an die Ratten, die sie aufessen werden, kann die Alte von dem Plan abbringen. War die junge Lyssewski eine gealterte, zerstörte Frau, so spielt Katharina Tüschen diese Alte fast mädchenhaft: Ihre Todessehnsucht hat etwas seltsam Schwebendes.

Stück wie Inszenierung zeugen vor allem von einem: gründlicher Orientierungsverlust, gediegene gesellschaftliche Depression. Auf wohlfeile Auswege verzichtet Schipenko. Aber der Abend leidet durch den Verzicht auf erkennbare Konflikte, durch den ausgestellten Stillstand, unter einer müden Zähigkeit, von der auch die wunderbaren Schauspieler die Inszenierung nicht befreien können. Peter Laudenbach

Alexej Schipenko: „Archeologia“. Regie: Ernst Stötzner, Bühne und Kostüme: Irmgard Berner. Mit Ulrich Matthes, Rainer Philippi, Dörte Lyssewski, Diana Greenwood, Alexander Schröder, Katharina Tüschen und Michael König.

Weitere Vorstellungen: 11., 14., 17., 19.9., um 20 Uhr in der Probebühne der Schaubühne, Cuvrystraße 7