Tarife des "zweiten Arbeitsmarktes"

■ Beschäftigungsprojekte wehren sich gegen untertarifliche Bezahlungen / 110.000 Menschen auf dem "zweiten Arbeitsmarkt" tätig / Skurrile Arbeitszeitdebatte

„Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, daß der erste Arbeitsmarkt ausreichend Beschäftigung bringt.“ Was Gunter Fleischmann vom Kreuzberger Projekt „Jugendwohnen im Kiez e.V.“ formulierte, ist der Konsens der Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Ausbildung (A3). Dieser Zusammenschluß verschiedener Projekte, die auf der Basis öffentlicher Gelder der Arbeitsbeschaffung oder Sozialhilfe Arbeitslose beschäftigen, setzen auf einen zweiten Arbeitsmarkt.

Der zweite Arbeitsmarkt, das ist ein Sammelsurium nicht immer genau definierbarer Arbeitsverhältnisse. Rund 110.000 BerlinerInnen werden dort mittlerweile beschäftigt. Es sind ehemalige Arbeitslose, die in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) Platz fanden. VorruheständlerInnen gehören dazu und die knapp 30.000 BerlinerInnen, die sich in Fortbildung und Umschulung befinden. 90 Prozent des zweiten Arbeitsmarktes sind eine Folge des „industriellen Strukturbruchs“, der sich in Berlin seit der Vereinigung zweier vollkommen verschiedener Wirtschaftsgebiete abspielte. 71.000 Arbeitsplätze im Osten der Stadt gingen verloren. Auch der Westberliner Aufschwung, der mittlerweile in eine Rezession umgeschlagen ist, konnte das nicht auffangen.

Angesichts dieser Entwicklung, so sieht es Sabine Bohle von A3, ist eine „skurrile Debatte“ entstanden. Arbeitszeitverlängerung heiße die Devise für den ersten Arbeitsmarkt, während die Arbeitgeber gleichzeitig den zweiten Arbeitsmarkt attackieren. „Schweren Schaden“, so die Bauindustrie Berlin-Brandenburg, fügten ABM und Sozialbetriebe den Unternehmen zu. Wirtschaftsminister Günter Rexrodt will, daß Arbeitslose wieder in öffentlichen Anlagen Laub rechen. Die ABM-Löhne sollen deutlich abgesenkt werden.

Solche Niedrigtarife sind üblich am zweiten Arbeitsmarkt. Die Gewerkschafter fingen sich deswegen bei der Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Ausbildung deutliche Kritik ein. „Wir wurden von der Regierung gar nicht gefragt“, verteidigte sich Karl Röhrig von der IG Metall Berlin, als der Paragraph 249h des Arbeitsförderungsgesetzes eingeführt wurde. Er sieht vor, daß Arbeitslose in den neuen Bundesländern ihre „Stütze“ als Lohnkostenzuschuß mit in Arbeitsverhältnisse nehmen können. Dort aber erhalten sie maximal 90 Prozent des Tariflohns.

Der Gewerkschafter Röhrig meinte, seine Organisation falle als Tarifpartner an dieser Stelle aus. „Wir erleben einen Übergang vom Arbeits- ins Sozialrechtsverhältnis“. Auf gut deutsch: Die untertarifliche Bezahlung am zweiten Arbeitsmarkt wird vom Gesetzgeber bestimmt und nicht von den Tarifpartnern ausgehandelt. „Das ist kein Sondertarif, sondern ein Diktat“, kommentierte das der Wirtschaftswissenschaftler Jan Priewe. Priewe sagte, es dürfe im Prinzip nur einen Arbeitsmarkt geben. Nur müsse er ausreichend differenziert sein und beschäftigungswirksam subventioniert werden. Mehr Arbeitsplätze seien im übrigen nur durch Arbeitszeitverkürzung zu schaffen.

„Man sollte die Erwerbstätigen des zweiten Arbeitsmarkts nicht aus dem Tarifgefüge entlassen“, sagte Uwe Gluntz von Atlantis, einem gemeinnützigen Kreuzberger Betrieb. Sie fühlten sich als Menschen zweiter Klasse, weil ihre Leistung nicht als gleichwertig akzeptiert werde. Wer untertarifliche Bezahlung hinnehme, erkläre sich einverstanden damit, daß es einen vom ersten Arbeitsmarkt abgespaltenen zweiten Arbeitsmarkt gibt.

Gluntz berichtete aus seinem Betrieb, daß der „Unter-Tarif“ die Beschäftigten von Atlantis nicht motiviere. Atlantis hat 250 Beschäftigte, vom normalen Facharbeiter und Meister über ABMler bis hin zu Menschen, die von Langzeitarbeitslosigkeit mit all ihren Begleiterscheinungen betroffen waren: Drogenabhängige, Alkoholkranke. Atlantis produziert unter anderem Windkraftanlagen oder Apparate für photovoltaische Energiegewinnung. Wie Atlantis sind viele der A3 angeschlossenen Projekte längst keine reinen Zuschußbetriebe mehr. Aber der ABM-Stopp und die Kürzungen anderer beschäftigungspolitischer Maßnahmen bereiten ihnen erhebliche Probleme.

„Wir brauchen eine eigene Rechtskonstruktion für die ,Arbeitgeber‘ dieses Arbeitsmarktes“, meint Franziska Eichstädt, die Geschäftsführerin von Stattbau. Die Projekte müßten Einnahmen erzielen können wie andere Betriebe. Auch wenn die im Öko- oder Sozialbereich arbeitenden Projekte öffentlich für Löhne und Betriebsmittel bezuschußt werden. „Neue Gemeinnützigkeit“ nennt das Eichstädt, und das Neue daran wäre ein leistungsabhängiger Lohn sowie die Fähigkeit zur begrenzten Konkurrenz. „Das Auftragsmonopol für den ersten Arbeitsmarkt muß gebrochen werden“, fordert die Geschäftsführerin von Stattbau. Christian Füller