„Ich fühle mich wie Superman“

Mit brasilianischen Sensationsreportern unterwegs in Rio / Die Massaker sind Ausdruck einer Kultur des Todes / Eine Gesetzesinitiative will die Militärpolizei an die Kette legen  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

José Carlos Harduim streichelt seine Kamera. Bewußt setzt er jeden Tag sein Leben aufs Spiel. „Ich fühle mich wie Superman“, erklärt er stolz. Seine Kollegin Elisa Nunes, Reporterin bei der brasilianischen Fernsehanstalt „SBT“, gefällt sich ebenfalls in ihrer Rolle als Königin von Rios Unterwelt. „Die Spannung macht mich verrückt. Ich will alles wissen, wie sie Kokain in kleine Portionen verpacken, wie sie es verkaufen, alles“, beschreibt sie ihre Sucht nach hartem Polizeistoff.

Reporterin Nunes und Kameramann Harduim peitschen mit 160 Sachen Rios Ausfallstraße „Avenida Brasil“ entlang. Längs der achtspurigen Rennbahn konzentriert sich die schmutzige Industrie der Stadt: Seifenfabriken, Müllhalden, Raffinerien, Chemiefabriken. Hinter den Fassaden heruntergekommener Produktionsstätten tut sich eine endlose staubige Wüste aus unverputzten Backsteinen auf, die sich bis zur Bucht von Guanabara erstreckt, dem Wahrzeichen der Stadt Rio de Janeiro. Hier, zwischen der stinkenden Meereskloake und den Fabrikhallen, wohnt Rios arme Bevölkerung.

Die Bewohner der Elendsviertel, genannt Favelas, sind für das Kamerateam der „SBT“-Sendung Aqui e Agora (Hier und Jetzt) eine unerschöpfliche Quelle der Berichterstattung. Das erfolgreiche Fernsehprogramm schildert nach eigenen Angaben „das Leben, so wie es ist“, und unterhält seine Zuschauer mit einer „dramatischen Nachrichtenshow“. Die Favela- Bewohner sind dabei Opfer und Täter zugleich, denn der Krieg zwischen rivalisierenden Drogenbanden und Polizisten spielt sich auf ihrem Territorium ab.

„Die Gefühle hängen nicht an einem Schinken (Rio-Jargon für Leiche, Anm. d. Red.), sondern am Schicksal der Witwe“, heißt es in der Redaktionsanleitung von Aqui e Agora. Sensation ja, Blut nein? Am 28. August, als in der Favela „Parque Proletario de Vigario Geral“ 21 Bewohner erschossen wurden, war beides wichtig. Aqui e Agora zeigte über eine Viertelstunde lang die offenen Särge mit den blutüberströmten Leichen und hielt den verzweifelten Verwandten das Mikrophon vor den Mund.

Das Massaker an den Favelados schreckte selbst die Journalisten von Aqui e Agora aus ihrer Routine auf. Innerhalb von nur vier Wochen ereigneten sich am Zuckerhut zwei Massaker. Am 27. Juli wurden acht Straßenkinder im Morgengrauen mitten im Zentrum von Rio von der Militärpolizei im Schlaf erschossen. Der Massenmord einen Monat später in „Vigario Geral“ geht wahrscheinlich ebenfalls auf das Konto der Ordnungshüter. Bereits 15 verdächtige PMs – Militärpolizisten – befinden sich in U-Haft.

Straßenkinder und Favela-Bewohner sind in den Augen eines Großteils der Bevölkerung mindestens potentielle Kriminelle. Und Verbrecher, so das allgemeine Diktat, gehören ins Grab oder ins Gefängnis. „Die ausufernde Gewalt ist keine interne Angelegenheit der Militärpolizei, sondern ein gesellschaftliches Problem“, verteidigt sich der nach den Massakern ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Oberst Nazareth Cerqueira, Chef der Militärpolizei von Rio. Die Kultur des Todes, wonach „Verbrecher“ kein Recht zum Leben haben, sei in Brasilien allgemein verbreitet.

„Leider ziehen einige mächtige Gruppen aus Rio eine Polizei vor, die tötet und foltert“, erklärt der Vizegouverneur des Bundesstaates, Nilo Batista, dem die Polizei untersteht. Die Kultur des Tötens, so versicherte Batista gegenüber der Zeitung Jornal do Brasil, sei das auffälligste Zeichen von Diskriminierung und Apartheid, die tief in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt sind. Nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1889 hätte sich die soziale Frage zu einer Angelegenheit der Polizei entwickelt.

Keiner der 21 Opfer aus „Vigario Geral“ hatte ein beflecktes polizeiliches Führungszeugnis. Die Mehrheit von ihnen verdiente sich ihren Lebensunterhalt in den umliegenden Fabriken, die Kinder gingen zur Schule. Ihr Verhängnis bestand einzig und allein darin, in einer Favela zu wohnen, wo mit Drogen gehandelt wird. Dies führt zwangsläufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Ermordung der 21 Bewohner von „Vigario Geral“ eine sinnlose Racheaktion der Militärpolizei war. Denn einen Tag vor dem Massaker ließ Drogenboß Flavio Negao vier PMs erschießen, weil diese sich beim Verkauf von Waffen an die Drogenhändler nicht an den zuvor ausgemachten Preis gehalten hatten. Die Vergeltung kam noch in derselben Nacht: Maskierte Männer mit Maschinenpistolen stürmten sie Siedlung und erschossen willkürlich jeden, der ihnen über den Weg lief.

Eine Woche nach der brutalen Exekution sind die Angehörigen der Toten mit ihrer Trauer wieder allein. Nur rund 200 Bewohner des „proletarischen Parkes“ versammeln sich auf dem Platz „Catole da Rocha“, um gegen die sinnlose Gewalt zu protestieren. „Liebe und Frieden, Schluß mit der Ausrottung“, forderten sie, doch kein Reporter, auch nicht das Team von Aqui e Agora, hielt es für notwendig, die Beschwerden aufzuzeichnen. Als Kameramann José Harduim die Favelados verloren im Regen stehen sieht, macht er sich nicht einmal die Mühe, aus dem Auto auszusteigen.

Nächste Anlaufstelle für Aqui e Agora ist die Polizeiwache von Pavuna, zu dessen Einzugsbereich auch die Favela „Vigario Geral“ gehört. 17 schwarze Kapuzen, die in der Wohnung eines PMs gefunden wurden, sollen dort noch am selben Abend abgeliefert werden. Vor der Polizeiwache drängeln sich bereits Journalisten und Fotografen und tauschen eifrig Informationen aus.

Elisa Nunes ist der Star der Reportermenge. Als sich eine Streife mit Blaulicht nähert, lassen ihr die Kollegen den Vortritt, und sie brüllt ins Mikrophon: „Die Leute haben keinen Zweifel daran, daß es die PMs waren. Diesmal werden sie nicht ungestraft davonkommen!“ Gebannt starren neugierige Passanten ins Scheinwerferlicht, vier bis an die Zähne bewaffnete Polizisten verbergen nervös ihr Gesicht und flüchten vor der Presse ins Revier.

Elisa Nunes hechelt hinterher. Eigentlich gibt es nichts Neues zu berichten. Weder sind die Kapuzen eingetroffen noch die Ermittlungen vorangekommen. Zusammen mit ein paar Kollegen beschließt die 27jährige daher, das Zimmer zu stürmen, indem sich die vier PMs zurückgezogen haben. Vor laufenden Kameras rennen ein paar Journalisten die Tür ein. Klappe zu. Was danach kommt, ist belanglos, denn es stand von vorneherein fest, daß sich kein einziger PM mehr hinter der verschlossenen Tür aufhielt.

Das voyeuristische Programm von Aqui e Agora verschafft dem Sender „SBT“ Audienzrekorde. Obwohl „SBT“ erst seit zweieinhalb Jahren in Betrieb ist, sägt das Programm an der Allmächtigkeit von O Globo, Brasiliens größtem Privatsender. Viele Brasilianer bewundern die Kühnheit der Reporter. „Sie zeigen wirklich die Wahrheit“, meint Lagerarbeiter Silvio Ferreira, Fan von Aqui e Agora.

Während Nunes in Pavuna ihren journalistischen Höhenrausch genießt, ist in der Öffentlichkeit wieder einmal die Diskussion darüber ausgebrochen, daß der Staat unfähig ist, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. „Massaker, Lynchjustiz und Entführungen. Wir dürfen es nicht zulassen, daß Drogenhändler ihre Geschäfte vom Gefängnis aus dirigieren, daß Militärpolizisten willkürlich töten und Detektive die Versicherungsprämie für gestohlene Autos einstreichen“, fordert die Rio-Zeitung Jornal do Brasil.

Naildo Ferreira de Souza, Vorsitzender der Anwohnervereinigung von „Vigario Geral“, sieht die Demokratie ebenfalls bedroht. „Wir nähern uns einer faschistischen Diktatur. Todesschwadronen auf der einen, Verbrechergruppen auf der anderen Seite. Es gibt kein politisches Konzept. Diese Orientierungslosigkeit ist gewollt. Dahinter steckt die Rechte“, mutmaßt der Eisenbahner.

Nachdem auch sein Sohn Adalberto am 28. August erschossen wurde, hat der 65jährige das Vertrauen in die Polizei endgültig verloren. „In ,Vigario Geral‘ sorgen die sogenannten Verbrecher für Ordnung“, erklärt er freimütig. Das sei zwar bedauernswert, doch ohne sie wäre alles noch viel schlimmer. Vor dem Beginn der Militärdiktatur 1964, so Ferreira, seien die PMs freundlicher mit den Favelados umgegangen. Doch sogar die politische Verfolgung Ende der sechziger Jahre stehe hinter der heutigen Brutalität zurück.

Die Militärpolizei wurde 1967 an die brasilianischen Streitkräfte angegliedert, um die politische Guerilla zu bekämpfen. Heute sind die PMs auf der Straße bei der Verkehrskontrolle im Einsatz und außerdem für die Verbrechensbekämpfung zuständig. Jeder Bundesstaat verfügt über seine eigene Militärpolizei, die dem vom Volk gewählten Gouverneur untersteht.

Ginge es nach Helio Bicudo würden die Uniformierten in Zukunft auch der zivilen Gerichtsbarkeit unterstehen. Der Abgeordnete der brasilianischen Arbeiterpartei PT hat diesbezüglich bereits zwei Initiativen in den Kongreß eingebracht. Der radikale Vorschlag, die Militärgerichtsbarkeit schlicht und ergreifend abzuschaffen, hat wenig Chancen. Doch Bicudos Gesetzesinitiative, wonach künftig Verbrechen wie Mord und Totschlag von der normalen Justiz behandelt werden müssen, ist bereits im Mai vom Abgeordnetenhaus gebilligt worden und bedarf nur noch der Zustimmung des Senats. Dies wäre der erste Schritt zur Demokratisierung der Polizei.

Doch bis jetzt ist nicht abzusehen, wann die Kultur des Todes aufweicht. „Ich frage mich, ob die Massaker nicht schon seit langer Zeit zu unserer Geschichte gehören“, meint Herbert de Souza, Leiter des Instituts für soziale und wirtschaftliche Analysen, aus Rio. Das Massaker an den Indianern, die Folter an Häftlingen, die Ermordung von Landarbeitern und die blutige Rache zwischen Familienclans im Nordosten seien nur einige Beispiele für die tief verwurzelte Tradition der Gewalt in der brasilianischen Geschichte.

Für „Betinho“, wie der Soziologe genannt wird, hat sich lediglich die Wahrnehmung der Fakten verändert. „Wir durchleben einen Moment von Tragödie und Tugend zugleich“, meint der 57jährige. „Die Militärdiktatur ist vorbei, dank der Pressefreiheit gelangen die Massaker und auch das Entsetzen darüber an die Öffentlichkeit.“ Betinho setzt dennoch auf die positiven Kräfte der Gesellschaft. „Ohne die Empörung der Bürger“, gibt er zu bedenken, „wäre es im vergangenen Jahr nicht zur Amtsenthebung von Ex- Präsident Collor gekommen.“