Die Unstrut fließt langsam

Eine Radtour vom Thüringer Becken bis zur Saale inspiriert zu einer Zeitreise ins Mittelalter auf romantischen Wegen entlang der Unstrut  ■ Von Ulrich Grober

Die Unstrutbrücke in dem thüringischen Dorf Sachsenburg, 40 Kilometer nördlich von Erfurt, ist ein guter Ausgangspunkt für eine Radtour durch das Unstruttal. Hier verläßt der Fluß das sanft gewellte Thüringer Becken und durchbricht die Höhenzüge von Hainleite und Schmücke. Porta Thuringia heißt diese Talenge. Hoch oben auf dem Berg stehen, von lichtem Laubwald eingeschlossen, zwei Burgruinen: die Sachsenburgen. Flußabwärts öffnet sich das Tal wieder. Die Höhenzüge treten zurück, umrahmen eine weite, tischebene Fläche: das Ried und die Goldene Aue.

Mein Weg längs der Unstrut, etwa 80 Kilometer bis zur Mündung in die Saale bei Naumburg, ist auf keiner Karte eingezeichnet, trotzdem nicht zu verfehlen. Ich radle mit nur wenigen Unterbrechungen auf dem Uferpfad. Er folgt meist auf der linken Seite den Windungen und Bögen des Flußlaufes.

Nirgendwo sonst außer im Boot ist man dem Fluß so nahe. Die Straße ist weit weg, wegen der Überschwemmungsgefahr damals auf höherem Terrain gebaut. Verkehrslärm dringt kaum herüber. Der Uferpfad – Wiesenweg oder „auf dem Damm“ sagen die Einheimischen – ist nicht asphaltiert, an manchen Stellen nur ein Trampelpfad oder eine Traktorspur im Gras. Ein Bauernweg eben, vielleicht hier und da auch ein Überrest des Treidelpfades aus der Zeit der Unstrut-Flußschiffahrt. Für mein Gefühl: Dieser Wiesenweg ist mit einem einigermaßen robusten Rad durchgehend angenehm befahrbar.

Es ist ein einsamer Weg am Fluß entlang. Die Unstrut fließt langsam in langgestreckten Bögen durch das Ried, ein im Mittelalter trockengelegtes Sumpfgebiet. Die Wasseroberfläche ist glatt. Nur manchmal kräuselt sie sich im Wind oder bildet sanfte Strudel. In der Mitte des Flusses spiegelt sich der helle Himmel mit den wandernden Wolken.

Zu den Ufern hin nimmt das Wasser das Grün des Pflanzenkleides auf den Böschungen an. Die filigranen Umrisse von Bäumen und Buschwerk verschwimmen. Holunder und Heckenrosen säumen den Weg. Ab und zu eine Reihe Pappeln. Wiesen, hier und da eine Fläche Raps oder ein Flecken feuerroter Mohn. Die Lerche ist ständige Wegbegleiterin.

Eine ganze Weile liegt linker Hand der Kyffhäuser im Blickfeld, der Zauberberg. Auf halber Höhe, rund wie ein Rad, das Bauernkriegspanorama. Ein neues Denkmal in dieser Landschaft. Auf dem Schlachtberg oberhalb von Bad Frankenhausen gelegen, markiert es den Ort, wo 1525 das Bauernheer Thomas Müntzers sich in einer Wagenburg verbarrikadierte, bevor es niedergemetzelt wurde. Wer den Spuren des „Rebellen in Christo“ folgen möchte, sollte auch einen Abstecher nach Heldrungen machen. Im Wasserschloß, heute ein Museum und eine – komfortable – Jugendherberge, kann man dort übernachten, wo Müntzer die letzten Tage und Nächte vor seiner Hinrichtung in Mühlhausen verbrachte.

Hinter Artern, an einem alten Mühlenwehr bei Ritteburg sehe ich Dorfkinder im Fluß baden. Die Wasserqualität soll sich in jüngster Zeit spürbar verbessert haben – eine heilsame Nebenwirkung der Deindustrialisierung in dieser Region. Ein Paddelboot bewegt sich scheinbar ohne große Mühe gegen die Strömung und ist bald hinter einer Biegung verschwunden. Die Unstrut – so höre ich – ist ein ideales Paddelgewässer.

Das Unstruttal inspiriert zu einer Zeitreise ins Mittelalter. Memleben, die Klosterruine, wäre für den Einstieg geeignet. Durch einen Garten tritt man in die Basilika. Das gelbe Sandsteingemäuer harmoniert prächtig mit dem Grün der Pflanzen, die den Boden der Seitenschiffe bedecken, und dem Blau des Himmels, der sich als Dach darüberwölbt.

Auf den Steinquadern der Säulen sind dunkle Flecken und Konturen zu erkennen: Überreste von Fresken mit den Porträts der ottonischen Kaiser und ihrer Frauen. Die Kaiserpfalz Memleben war einer ihrer Lieblingsorte. Die Sumpfgebiete an der Unstrut und die benachbarten Forste gehörten zu ihren bevorzugten Jagdrevieren. Die Fresken sollen früher bei Nässe gespensterhaft deutlich hervorgetreten sein. Ein bißchen von diesem Effekt ist noch da. Nach dem Gewitter am Vortag, so erklärt die Fremdenführerin, seien die Umrisse deutlicher als normal. Übrigens: schwere Sommergewitter sind hier keine Seltenheit. Das Unstruttal wirkt wie ein Kessel, in dem sich die Unwetter sammeln und entladen.

Hinter Memleben rücken die Höhenzüge zu beiden Seiten des Flusses zusammen. Das Tal verengt sich zu einem schluchtartigen Durchbruch. Rötlicher Buntsandstein bildet malerische Felspartien. Der windgeschützte und sonnendurchglühte Steilhang am linken Ufer, die Steinklöbe, ist bekannt für seine mediterrane Steppenvegetation. Oberhalb beginnt der ausgedehnte Ziegelrodaer Forst – ein empfehlenswerter Abstecher für Leute, die zur Abwechslung mal auf einsamen Waldwegen radeln wollen.

Bei Nebra öffnet sich das Tal wieder, wirkt jedoch für einige Zeit zersiedelt und reizlos. Erst hinter den Karsdorfer Zementwerken wird es an der Unstrut wieder schön. Alte Schleusenanlagen, allmählich von Schlingpflanzen überwuchert, sind vom Uferweg aus zu sehen, dann die ersten Weinberge. Hinter einer Flußbiegung kommt Freyburg ins Blickfeld. Hoch über dem Städtchen thront mit ihren wuchtigen und massigen Strukturen die Neuenburg.

Bei der Führung wird sie mit viel Stolz und Sachverstand als die größere Schwester der Wartburg präsentiert: das Bollwerk der thüringischen Landgrafen, ein Zentrum mittelalterlicher höfischer Kultur, eine Wiege der mittelhochdeutschen Literatur. Das Kleinod ist die Doppelkapelle. Sie gehört, so die gedämpfte Stimme der Führerin, zum Erlesensten, was uns von der Kunst der Stauferzeit geblieben ist. Reine Romantik: ein lilienblütenförmiges Fenster, eine schlanke Säule aus schwarzem Basalt, arabeske Verzierungen, Spuren islamischer Kunst, Mitbringsel der Bauherren von den Kreuzzügen. Der Raum hat eine Aura. Hier hat Elisabeth von Thüringen gebetet, vielleicht ihre Visionen gehabt: freiwillig arm dem Volke dienen.

Nur noch wenige Kilometer bis zur Mündung der Unstrut in die Saale. Der Weg geht durch Weinberge. Dann ist der Zusammenfluß erreicht. Ein wunderschönes Fleckchen Flußlandschaft. Es heißt mit vollem Recht „Blütengrund“.

Eine Fähre überquert hier die Saale. Gemächlich bewegt sich der schwarze Kahn an dem über den Fluß gespannten Drahtseil entlang. Ein am Bug aufrecht stehendes Holz hält ihn am Seil und lenkt die Kraft des Wassers im rechten Winkel um. Das Ruder am Heck steuert die Schrägstellung des Kahns und damit die Richtung der Fahrt. Nur zu Beginn des Übersetzens zieht der Fährmann ein- oder zweimal kräftig am Seil, um den Kahn vom Ufer wegzubringen. Den Rest macht der Fluß. Uralte, sanfte Technik. Der Fährmann ist noch jung, trägt Vollbart, Jeans und Parka und ist ein philosophischer Geist. So wie sein legendärer Berufskollege Vasudeva aus Hesses „Siddharta“ – ein Buch, das der Saalefährmann durchaus zu schätzen weiß.

Jeder Passagier wird geduzt, es wird viel geplaudert und gelacht während der Überfahrt. Der Fährmann ist aber auch eine gute Quelle für jeden, der sich für Land und Leute an Saale und Unstrut interessiert. Die Fähre im Blütengrund ist selbst Teil der Geschichte dieses Landstrichs. Anno domini 1283, so erzählt der Fährmann, wird sie zum erstenmal urkundlich erwähnt, schon damals als die „alte Fähre“. Möglich also, daß die heilige Elisabeth sie schon benutzt hat – oder der Naumburger Meister auf dem Weg zu den Steinbrüchen im Unstruttal, um den Rohstoff für die Stifterfiguren in Augenschein zu nehmen.

Die Überfahrt ist zu Ende. Naumburg, die alte Domstadt, lockt.