Die neue Form der Täterentlastung

Der „Mißbrauch des Mißbrauchs“: Sexuelle Freiheit nach Alt-68er-Art auf Kosten der Kinder / Die bundesdeutsche Variante des Backlash: Feministische Arbeit wird durch den Dreck gezogen / Medien spielen begeistert mit  ■ Von Gitti Hentschel

„Eine Mutter weint um ihre Kinder. Das Jugendamt hat sie ins Heim gesteckt. Am Pranger der Vater. Vorwurf: Kindesmißbrauch.“ Der Verdacht der Journalistin Ruth-Esther Geiger: Hier wird Mißbrauch mit dem Mißbrauch getrieben.

Ein für die ARD so brennendes Problem, daß sie im August zur besten Sendezeit eine Sendung dazu präsentierte, „exclusiv“: Danach wurden drei Familienväter in Münster von Kindergärtnerinnen verdächtigt, ihre Kinder zu mißbrauchen. Hinzugezogene ExpertInnen, Psychologinnen und das Jugendamt bestätigten den Verdacht, das Vormundschaftsgericht beschloß Heimeinweisung. Doch mit Hilfe eines Gegengutachters, öffentlichen Drucks, in einem Fall sogar der Entführung der Kinder aus dem Heim erreichten die Eltern die Rücknahme der Beschlüsse, gegen Auflagen.

Erzieherinnen wie andere ExpertInnen wurden in der Sendung der ARD in diffamierendem Ton als aufdeckungsbesessen und inkompetent dargestellt; die Kinder lediglich „Versuchsobjekte“ für sie; ihre Aufdeckungsarbeit eine einzige hemmungslose „Intimschnüffelei“. Symptome der Kinder: überinterpretiert; ihre Angaben: Folge von Manipulation und suggestivem Befragen; die Aussage von Großeltern: bösartiges Vorurteil gegen den Schwiegersohn. Glaubwürdig allein die leidgeprüften Eltern, die im Gegensatz zu allen anderen breit und mitleidheischend zu Wort kamen; kompetent nur der von ihnen eingeschaltete Gutachter, Helmut Kentler, Professor für Sexualpädagogik an der TU Hannover, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung.

Für den Professor ist es kein Problem, per Ferndiagnose, ohne Rücksprache mit Kindern oder einbezogenen Fachleuten, zu erkennen, daß an den Mißbrauchsvorwürfen gegen die Väter nichts dran ist. In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen empfiehlt er für straffällige Jungen die Unterbringung „bei pädagogisch interessierten Päderasten“. Gegenüber Expertinnen, die seit Jahren mit mißbrauchten Kindern arbeiten, ist er nicht gerade zimperlich. Mitarbeiterinnen der feministischen Beratungsstelle „Wildwasser“ in Berlin sind für ihn „Wald-und-Wiesen-Psychologinnen, die nicht wissen, wie man Kinder untersucht“. Ihm vorliegende Gutachten über den Mißbrauch an Kindern seien dem Interesse entsprungen, die Mädchen in der „Wildwasser“ angeschlossenen Zufluchtswohnung festzuhalten, sogar mit „Druck“. Das Motiv: Sonst würde die Zufluchtswohnung nicht voll. Von 17 Plätzen seien in der Regel ja nur acht belegt. Tatsache ist, daß die Wohnung, ein von der Bundesregierung gefördertes Modellprojekt, nur sechs Plätze hat und die Mitarbeiterinnen zeitweise so überlastet waren, daß sie einen Aufnahmestopp beschlossen.

Dies ist kein Einzelfall. Seit einiger Zeit wissen es FAZ und taz, öffentlich-rechtliche und private Fernsehanstalten, Wochenmagazine und Stadtzeitungen genau: Es wird Mißbrauch mit dem Mißbrauch getrieben. Geradezu kampagnenartig werden Sozialpädagoginnen, WissenschaftlerInnen, insbesondere Feministinnen, die Mädchen-Mißbrauch als Politikum öffentlich machen und Betroffenen professionelle Unterstützung bieten, diffamiert und verleumdet. Es wird suggeriert, daß nicht der sexuelle Mißbrauch das Hauptproblem sei, sondern der „Mißbrauch des Mißbrauchs“.

Ihre ideologische Legitimation beziehen die neuen „AufklärerInnen“ aus der von konservativ bis progressiv als „brillant und respektlos“ (FAZ) hochgejubelten Polemik von Katharina Rutschky, „Erregte Aufklärung – Kindesmißbrauch“. Darin wirft sie Feministinnen, Wissenschaftlerinnen und Pädagoginnen vor, sie hantierten mit unseriösen, viel zu hohen Zahlen, etwa den Dunkelziffern des BKA, das die Zahl der mißbrauchten Kinder pro Jahr auf 300.000 schätzt. Sinn und Zweck einer solchen Dramatisierung des Mißbrauchs sei für die Expertinnen, ihre Arbeit aufzuwerten und sich Arbeitsplätze zu sichern. Darüber hinaus wollten Feministinnen auf diese Weise „einem Abkühlungs- und Abnutzungseffekt in der Öffentlichkeit“ entgehen, und alle gemeinsam – in Koalition mit Konservativen und Kirchen – wollten aus Prüderie und Lustfeindlichkeit die Sexualität von Kindern und Erwachsenen unterdrücken.

Wer merkt schon, daß Rutschky ihrerseits mit den – sehr viel niedrigeren – Dunkelziffern des Kinderschutzbundes von 80.000 mißbrauchten Kindern hantiert? Sie kennt anscheinend die Debatte in den von ihr angegriffenen Fachkreisen, die schon lange die Spiele mit Dunkelziffern kritisch bewerten, ebensowenig wie zahlreiche Repräsentativerhebungen aus den USA und Holland, nach denen jedes dritte Mädchen bis zum Alter von achtzehn Jahren mindestens einmal sexuellen Übergriffen ausgesetzt war. Zahlen, die sich mit bundesdeutschen Stichprobenerhebungen decken.

Als Anfang der 80er Jahre Feministinnen das Schweigen um den sexuellen Mißbrauch durch männliche Familienangehörige brachen und zu einem Politikum machten, machten sie auch langgehegte Vorurteile bewußt; zum Beispiel Mädchen wie Frauen seien besonders unglaubwürdig, Lügnerinnen, Verführerinnen der triebstarken Männer.

Die Wirksamkeit von Rutschky basiert darauf, daß sie an die alten Vorurteile anknüpft. Sie zweifelt die Berichte mißbrauchter Frauen und Mädchen an: „Ihre Geschichten ähneln in ihrer Eintönigkeit Litaneien, in denen immer dasselbe gesagt wird“; ein Zynismus, mit dem sie zeigt, daß sie nie mit mißbrauchten Mädchen und Frauen gesprochen hat.

Die Glaubwürdigkeit von betroffenen Kindern, in den meisten Fällen Mädchen, Dreh- und Angelpunkt eines jeden Gerichtsverfahrens, wird von ExpertInnen außerordentlich hoch eingeschätzt. Nach den Erfahrungen des Berliner Kinder- und Jugendpsychiaters Jörg Fegert ist das Risiko höher, daß ein Kind über Mißbrauch durch nahe Familienangehörige nicht redet, als daß es Falschbeschuldigungen erhebt. Ohnehin werden die wenigsten Fälle von Mißbrauch vor dem Strafgericht verhandelt. Die Belastung des Gerichtsverfahrens mit unsicherem Ausgang ist für die betroffenen Kinder so groß, daß auch feministische Beratungsstellen inzwischen zwiespältig zu Anzeigen steht.

„Je kleiner das Mädchen, desto eher raten wir ab“, so Eva Nicolai von „Wildwasser“. Ausnahme: wenn der Täter in einer Erziehungseinrichtung pädagogisch tätig ist und die Chance besteht, weitere Fälle aufzudecken. Entsprechend ist die Zahl der Mißbrauchsfälle nach wie vor um ein Vielfaches höher als die Zahl der Anzeigen. Auch dies ein Grund für Rutschky, das Ausmaß des Mißbrauchs in Frage zu stellen. Allerdings diene in Scheidungsverfahren Frauen dieser Vorwurf gegen den Ehemann als Mittel, dem Vater Kind und Sorgerecht zu entziehen. Eine Behauptung, die nach Jugendpsychiater Fegert in Einzelfällen zutreffen mag, wo bei Scheidungen ohnehin mit allen Mitteln „schmutzige Wäsche gewaschen“ werde. Doch sie rechtfertige auf keinen Fall die These vom „Mißbrauch des Mißbrauchs“.

Nach den Erfahrungen von „Kind im Zentrum“ (KiZ) in Berlin, die Beratung und Therapie sowohl für mißbrauchte Frauen und Kinder als auch für Täter anbieten, nehmen Frauen in Trennungssituationen eher Vorgänge wahr, die sie zuvor oft verdrängt haben. Doch da Gerichte zum Teil in der Logik vom „Mißbrauch des Mißbrauchs“ entscheiden, rät Ursula Enders von der Kölner Beratungsstelle „Zartbitter“ Frauen oftmals davon ab, den Mißbrauchsvorwurf im Scheidungsverfahren vorzubringen; er werde leicht zum „Bumerang“.

Besonderen Eifer bei der Entlastung beschuldigter Väter zeigt in Berlin das Stadtmagazin tip. Dazu versucht es vor allem, professionelle Beratungsstellen wie „Wildwasser“ oder „Kind im Zentrum“ in Mißkredit zu bringen. Gegendarstellungen und gerichtlich erzwungenen Widerruf der Diffamierungen versucht tip damit zu entgehen, daß es die Nennung konkreter Namen von professionellen Helferinnen meidet. Sie werden zur „aufdeckungssüchtigen Kindergärtnerin“ oder „mißbrauchsfortgebildeten Sachbearbeiterin“. Die taz-Recherche ergab, daß besagte „Sachbearbeiterin“ langjährige Sozialarbeiterin im Jugendamt ist, die aufgrund von Zusatzqualifikationen spezielle Beratung zum sexuellen Mißbrauch durchführt.

Keine der angegriffenen ExpertInnengruppen bestreitet, daß in Einzelfällen unsichere Pädagoginnen vorschnell Symptome von Kindern auf Mißbrauch deuten. Entsprechend gehört zu ihrer Arbeit, panische Überreaktionen und voreilige Schlüsse zurechtzurücken. Doch dies wollen die KritikerInnen nicht wahrhaben.

„In einer Art volkstümlicher Version der großen Lüge stellt er die Wahrheit dreist auf den Kopf“, schreibt Susan Falludi über den „Backlash“, den „Gegenschlag“, gegen die Frauenbewegung in den USA; eine Charakterisierung, die hier genau paßt.

Besonders wirkungsvoll: die abgegriffene Platitüde von Feministinnen als sexualfeindlich. „Im Feminismus kehrt die Sexualfeindlichkeit der Pädagogen von anno dazumal zurück, die umstandslose Denunziation aller Sexualität“, behauptet Rutschky in einem Interview mit tip, in dem sie auch „manches“ an Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen als „völlig normal“ bezeichnet. Eine Position, die Mißbraucher legitimiert. Die Vermischung von Sexualität und sexueller Gewalt leugnet zudem den grundsätzlich anderen Charakter sexueller Gewalt, die mit Sexualität nicht das geringste zu tun hat. Im sexuellen Mißbrauch kommt das gesellschaftlich ungleiche Machtverhältnis nicht nur zwischen Kindern und Erwachsenen, sondern auch zwischen Frauen und Männern besonders zum Ausdruck. Dies haben Feministinnen im letzten Jahrzehnt herausgestellt. Entsprechend hat der feministische Kampf gegen sexuelle Gewalt mit Sexualfeindlichkeit nicht das geringste zu tun. Die Wiederherstellung der körperlichen wie seelischen Integrität und sexuellen Selbstbestimmung ermöglicht im Gegenteil erst die Entwicklung lustvoller, durch Gewalterfahrungen verschütteter Sexualität.

Nach Rutschkys eigenen Angaben wurde sie zu ihrer Polemik animiert von Professor Reinhart Wolff. Der Alt-68er, gegenwärtig Rektor der Fachhochschule für Sozialarbeit in Berlin, ist Mitinitiator des Berliner Kinderschutzzentrums, das seit Jahren Arbeit gegen Mißhandlung in der Familie leistet, aber die spezifische Bedeutung und Probleme von Mißbrauch verkennt. In einer Mißdeutung feministischer Positionen behauptete Wolff bereits 1990 zusammen mit seiner Frau Angela Bernecker in der Fachzeitschrift Sozial Extra: „Der ganze Eifer richtet sich darauf, Normen einer desexualisierten Kindheit und einer traditionellen Geschlechterstruktur wieder aufzurichten.“ Nach Vorstellung dieser Kinderschützer, die ein familientherapeutisches Konzept vertreten, gilt Mißbrauch als Symptom zerrütteter Familienverhältnisse, für die alle Familienmitglieder Verantwortung tragen; ihr Therapieansatz zielt auf gemeinsame Gespräche von Opfer und Täter. Nicht nur das Machtgefälle in der Familie, auch die Schuldfrage bleibt außen vor.

Wolff ist auch für den Deutschen Kinderschutzbund tätig, der 1991 als Aufklärung gegen Mißbrauch in der Familie Plakate von Mädchen veröffentlichte mit Aufschriften wie „Vati war ihr erster Mann“. Typische Rechtfertigungsmuster von Tätern wurden gegen die Mädchen gewandt, die nach dem Lolita-Klischee Männer verführen: „Immer, wenn sich die Gelegenheit ergibt, kann Onkel Paul nicht anders.“ Diese Verharmlosung von Mißbrauch erscheint nicht zufällig. Die Kampagne wurde in der Regie von Professor Walter Bärsch entworfen, langjähriger Vorsitzender des Kinderschutzbundes, seit 1991 dort Ehrenpräsident. Bärsch ist auch Mitglied im Kuratorium der Arbeitsgemeinschaft „Humane Sexualität“ (AHS), die behauptet, „pädosexuelle Kontakte“ könnten „trotz der Ungleichheit der Partner gleichberechtigt und einvernehmlich gestaltet werden“. Auch Professor Kentler ist als „Berater“ im Kuratorium der AHS tätig.

Ebenfalls die Interessen der Mißbraucher betreibt der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht (ISUV), in dem vorwiegend geschiedene Väter organisiert sind. In einer von ihr herausgegebenen Broschüre zum „Mißbrauch mit dem Mißbrauch“ fordert der Sexualwissenschaftler Ernest Bornemann das Recht von Kindern ab sieben Jahren zu sexuellen Kontakten mit Erwachsenen. In einem anderen ISUV-Heft erklärt er: „Wer nie erlebt hat, wie ein launisches Püppchen von zehn Jahren einen Mann von 40 herumkommandieren kann, der weiß wenig über Sexualität.“

„Falsche Kinderfreunde“, die „ein Netz von Organisationen und Institutionen bilden,“ schreibt Emma in ihrer neuesten Ausgabe, in der sie weitere Verbindungen honoriger Professoren zu Pädophilen-Gruppierungen aufzeigt.

Mit der gegenwärtigen Kampagne sind auch handfeste materielle Interessen verknüpft. In Zeiten, in denen im Sozialbereich gekürzt wird, verschärft sich die Konkurrenz um die Gelder, auch zwischen Gruppen wie Kinderschutzbund und -zentrum einerseits, „Wildwasser“ und ähnlichen Projekten andererseits. Einrichtungen wie „Wildwasser“ bekommen Kürzungen bereits zu spüren. Auch GerichtsgutachterInnen, die regelmäßig in Familien- oder Vormundschaftsverfahren gehört werden, bangen um Geschäft und Einfluß. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr sind als Sachverständige künftig auch Mitarbeiterinnen von Einrichtungen wie „Zartbitter“ zu hören, wenn ein Gutachten deren Beurteilung widerspricht.

Auftrieb bekommen die Täter. Nach Erfahrungen von KiZ fühlen sie sich ermutigt, zu leugnen oder ein Geständnis zu widerrufen. Außerdem animiere der öffentliche Applaus für Eltern, die ihre Kinder aus Heimen entführen, zur Nachahmung. Zugleich besteht die Gefahr, daß (Sozial-)Pädagoginnen, überhaupt alle, die mit Kindern zu tun haben – wie in früheren Zeiten – mehr weggucken und Gerichte mit Beschlüssen, die vorrangig den Schutz der Kinder im Auge haben, zögerlicher werden.

Die Folgen für die Mädchen sind verheerend: Sie bekommen die Macht der Täter noch mehr zu spüren.