■ Stadtmitte
: Berlin muß wirkliche Hauptstadt werden

Berlin hat den Olympia-Zuschlag nicht erhalten. Das ist weder ein Anlaß für Jubelgeschrei noch für allzu heftiges Wehklagen. Wir haben mit dieser Absage eine neue Chance bekommen, die allerdings auch wieder vertan werden kann: Berlin darf sich nun ganz seiner eigentlichen Aufgabe widmen, aus sich eine einladende, eine soziale, eine menschliche Hauptstadt zu machen. Das wird schwer genug werden, bei so viel Widerstand in Berlin selbst und in den deutschen Landen sonst.

Ich gestehe, daß ich am Donnerstag abend ein wenig erleichtert war. Nicht, weil ich die Argumente für die Bewerbung ganz und gar widersinnig gefunden hätte. Möglich wär's schon gewesen, daß Olympia der Stadt einen Schub versetzt hätte. Aber erinnern wir uns an den Ursprung: sich für Olympia zu bewerben war eine mauerüberwinden-sollende Idee damals zu Zeiten der geteilten Stadt vor 1989. Sie ist es, leider, nicht geblieben. Die Stadt war sich uneins, die Deutschen waren geteilter Meinung. Die Spiele in Berlin, das ist keine die Stadt und die Republik einigende, zündende Idee geworden. Viele blieben skeptisch, aus Bonn kam nur halbherzige Unterstützung, aus Berlin gar schlimmer gewalttätiger Widerstand. Und allzu viele außerhalb fanden sich in ihren Antipathien gegen Berlin bestätigt: Zugleich Olympia- und Hauptstadt werden zu wollen beweise wieder einmal den entsetzlichen Größenwahn der Berliner Großfressen. Hätte Berlin den Olympia-Zuschlag bekommen, das wäre ein Fest für die Bonn- Anhänger geworden! Ein schlagkräftiges Argument gegen jedweden Umzug, gegen die Unterstützung für Berlin! (Denn alles, was Geld kostet, dagegen ist man, dagegen kann man Mehrheiten aufbringen.)

Aber Berlin muß wirkliche Hauptstadt werden, braucht den Umzug von Parlament und Regierung ganz existentiell. Wer das in der Stadt nicht einsieht, ist ein gefährlicher Träumer. Berlin ist die ärmste Großstadt Deutschlands, liegt im Vergleich zu München, Frankfurt, Düsseldorf, Stuttgart, Köln, Hamburg in fast allem zurück, was eine moderne Großstadt bestimmt – wirtschaftliche, soziale, infrastrukturelle, mentale Folgen von vierzigjähriger Trennungsgeschichte, von Eingemauertsein und tönerner Hauptstadtexistenz! Und es geht ja nicht nur um Berlin.

Der Umzugsbeschluß muß also eingehalten, der Termin endlich verbindlich festgelegt werden. Spätestens 1998/99 kann der Umzug erfolgen. Die Entscheidung kann noch dieses Jahr fallen – nachdem Bundesregierung und Konzeptkommission des Bundestags im Oktober/November ihre Berichte über Kosten und Planungen vorgelegt haben. Dann sollte die Bundesregierung sich endlich festlegen und der Bundestag entscheiden – in einer parteiübergreifenden Aktion, also ohne daraus eine parteitaktische Angelegenheit zu machen. Berlin hätte dann endlich Gewißheit (Bonn übrigens auch) und könnte endlich gelassenes Selbstbewußtsein entwickeln, um den Ängsten in und außerhalb der Stadt zu begegnen: den Ängsten vor Gigantomanie, vor Veränderung, vor Verteuerung, vor Verwilderung. Es soll und muß ein sparsamer Umzug werden in eine bescheidene Hauptstadt. Gebaut werden müssen: Regierungs- und Parlamentsbauten (aber wenige) und Wohnungen (um so mehr); Verkehrslösungen sind notwendig, aber ohne dem Alptraum einer autogerechten Stadt nachzujagen; Unternehmen und Dienstleistungsfunktion sind nach Berlin zu holen, um der Arbeitsplätze willen, aber ohne städtisches Leben zu verdrängen, das Lebensrecht der Bürger einzuschränken; eine Flut von Entscheidungen ist zu treffen, aber ohne Mitbeteiligungsrechte der Bürger außer Kraft zu setzen.

Berlin kann wieder eine Einladung aussprechen, diesmal an seine Bürger. Sie wird diesmal – anders als von den greisen Herren des IOC – angenommen. Hoffentlich. Wolfgang Thierse

Der Autor ist stellvertretender Vorsitzender der SPD.