Die Bedrohung hatte ihren Reiz

■ Die Schwulenbewegung Ost, eine Notgemeinschaft, traf im Westen auf ein politisch gespaltenes Gegenüber. Gespräch mit dem Berliner Bündnis-Abgeordneten Christian Pulz

taz: War Schwulsein in der DDR interessanter als heute?

Christian Pulz: Also das eigentliche Schwulsein nicht. Für manche war es vielleicht abenteuerlicher, weil es deutlicher im gesellschaftlichen Abseits stattfand. Ich denke, daß unsere Arbeit in den schwul- lesbischen Arbeitskreisen durch die Bedrohung – man mußte immer abwägen, wie weit man gehen kann – sehr interessant war. Das hatte durchaus seinen Reiz.

Gab es denn so etwas wie eine spezifische DDR-Schwulenidentität?

Ich denke, daß wir vor der Wende auch wenig an Identität hatten, sondern wir waren feige und haben zu wenig getan, um uns gegen die Diktatur zu wehren. In den kirchlichen Arbeitskreisen haben wir versucht, ein wenig zu tun – mit sehr viel Zurückhaltung –, aber immerhin. Wir haben so viel erreicht, daß uns die Stasi im Nacken saß. Wenn man jetzt nachträglich von einer DDR-Identität spricht, ist das für mich in erster Linie etwas Negatives. Wir hatten Überlebensstrategien verinnerlicht, die sich heute als nachteilig heraustellen.

So negativ sehen das heute aber wenige.

Von den schönen Seiten einer schwulen DDR-Identität habe ich nicht so doll viel erlebt. Ich denke, daß wir in den Arbeitskreisen menschlicher miteinander umgegangen sind, weil wir eine Notgemeinschaft waren und uns gegen ein Unterdrückungssystem miteinander verbunden haben.

Wie ist dann deine Bilanz nach drei Jahren Einheit?

Ich kann jetzt in irgendwelche Schwulen-Kneipen gehen, die mich nicht interessieren, und ich kann versuchen, in einen politischen Prozeß einzugreifen, was ich ja auch mit viel Mühe als Abgeordneter tue. Das wünsche ich mir übrigens auch von meinen Landsleuten im Osten für die Zukunft: daß sie die Rechte, die da sind, auch einfordern, wenn nicht sogar dafür kämpfen, daß es mehr werden.

Mit welchen Problemen kommt denn die Basis zu dir?

Im Moment kommen sie, weil sie gerne am Märchenbrunnen eine Notrufsäule oder Beleuchtung hätten, also mit ganz konkreten Wünschen. Oder es melden sich Projekte, die wegen fehlender Finanzen abgewickelt werden sollen.

Wie steht es 1993 mit der Vereinigung der Schwulenbewegungen aus Ost und West?

Im Osten war es so, daß die kirchlichen Schwulengruppen ein Stück weiter gingen und gesellschaftliche Utopien entwickelt haben, während die Arbeitskreise, die sich im staatlichen Bereich ansiedeln mußten, viel deutlicher die alltäglichen Probleme der Lesben und Schwulen im Auge hatten – daß man Tanzmöglichkeiten hatte, daß man sich offen bewegen kann, innerhalb der Grenzen der DDR- Gesellschaft, die wir erweitern wollten. Das war aber kein fundamentaler Unterschied. Im Westen sind wir auf eine gespaltene Schwulenbewegung gestoßen, die sich in vielen theoretischen Kämpfen gezeigt hat – Beispiel schwule Ehe, da gab es keinen Mittelweg. Oder die zwei Christopher-Street- Day-Demonstrationen, die wir dieses Jahr in Berlin gehabt haben: Es gibt offensichtlich noch die Tatsache, daß der Sonntagsclub, der aus der DDR übriggeblieben ist, wenig Verbindung zum Westen hat, und ich höre von den Leuten dort, daß sie selten in die westliche Subkultur gehen – und umgekehrt ist es ähnlich: Das Überschreiten der Grenzen ist immer noch nicht an der Tagesordnung.

Da bist du als Abgeordneter im Gesamtberliner Parlament eher eine Ausnahme?

Das wäre natürlich ohne die Wende nicht passiert. Aber ich bereue auch nicht die Zeit vor der Wende, die für mich prägend war, weil ich in dieser Zeit mein Selbstbewußtsein gewonnen habe und politisch daran mitwirken konnte, daß sich bestimmte Dinge in der DDR für Homosexuelle verändern. Ich denke, daß wir jetzt noch auf der Suche nach einer Identität sind, aber meine schwule Identität habe ich in der DDR gewonnen, die ändert sich hier nicht. Ich habe es jetzt mit einer Identität als Staatsbürger zu tun, wo ich mich neu definieren muß. Interview: Lutz Ehrlich