Verrat ist der Normalfall

■ Geschichten vom Menschenzerquetschen. Erzählungen von Aleksandar Tišma

Aleksandar Tišmas Erzählungen nehmen das Grauen ins Visier: Mit unerhörter Nüchternheit zerstört er die Vorstellung, im Europa der Mitte dieses Jahrhunderts habe so etwas wie Zivilisation geherrscht. Er führt vor, wie aus der bürgerlichen Normalität das Grauen entsteht. Er beobachtet, um es mit den Worten zweier aus dieser Welt Vertriebener zu sagen, wie die zivilisierte „Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (Theodor W.Adorno und Max Horkheimer, 1944). Wie in seinem großen Roman „Der Gebrauch des Menschen“, erzählt Tišma auch in den nun übersetzten Erzählungen von der ungarischen und deutschen Besetzung Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg, von der deutschen Wertarbeit, die in den besetzten Gebieten und in den Konzentrationslagern geleistet wurde. Tišma, Sohn einer ungarischen Jüdin und eines Serben, ist nicht an einfachen moralischen Konstellationen interessiert. In den vier Erzählungen gibt es keine „guten“ Opfer, nur wenige „böse“ Täter: Der Verräter ist der Normalfall. In der zentralen Erzählung des Buches zeigt Tišma einen Folterer bei der Arbeit. Während er einen Gefangenen umbringt, denkt er an sein krankes Kind. Der Schlächter nicht nur als ängstlicher Papa, sondern als kleiner Beamter: „Roheit war das Maß des Diensteifers, und niemand wollte sich dem Verdacht aussetzen, daß es ihm daran mangele.“ Der Verzicht auf moralische Wertung ermöglicht einen genauen Blick: Der Folterer ist einer von uns. Aus seiner Perspektive wird erzählt, wir schauen nicht auf ihn herab, sondern kriechen in sein Gehirn: ein ängstlicher Beamter, der früher als Platzanweiser in einem Kino gearbeitet hat und nun bei der Geheimpolizei „diesen ersten erfolgversprechenden Posten angetreten“ hat.

Tišmas Gestus ist der des Dokumentaristen: So ist es gewesen. Der Verzicht auf beruhigende Erklärungsmuster, auf überschaubare Kausalketten schärft nicht nur die Genauigkeit der Wahrnehmung. Tišma kann so bei aller Fixierung auf den historischen Einzelfall über simple literarische „Aufarbeitung“ von Geschichte weit hinausgreifen: Hinter dem konkreten geschichtlichen Kontext wird jene Barbarei sichtbar, die das zivilisierte Europa zu bieten hat.

Was 1978, beim Erscheinen der jugoslawischen Erstausgabe, wie ein Blick in die Geschichte gewirkt haben mag, ist heute, wie man so sagt, „von erschreckender Aktualität“.

Tišma befragt das Besondere auf sein Allgemeines: Was ist ein Mensch? Dieser Blick über den Einzelfall hinaus ist im neuen Buch ins Extrem getrieben: Bis auf einige Details könnten sie überall spielen, wo im Namen irgendeiner Macht Menschen zerquetscht werden.

Der Schrecken kriecht hier leise und selbstverständlich in den Alltag: Ein Mann verliebt sich in eine Frau, weil er gesehen hat, wie liebevoll sie sich um ihren kranken Gatten kümmert. Der Gatte stirbt, der Mann nimmt seine Rolle ein – und wird ebenfalls krank. Eine trocken erzählte Liebesgeschichte, eine Grübelei über die zerbrechliche Fiktion von Identität. Das wird aufgeladen durch die Erinnerung an die erste Ehe des Mannes: Seine Frau betrügt ihn, selbst im Konzentrationslager verrät sie ihn und wird die Geliebte des Kommandanten: ein Versuch zu überleben. Der Mann kann fliehen, bekommt die Papiere eines anderen, überlebt, indem er eine andere Identität annimmt: Raffiniert variiert Tišma das Motiv des Überlebens durch Verleugnen der Identität – nach dem Vorbild des Odysseus, der überlebt, indem er sich „Niemand“ nennt: „Er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht.“ (Adorno/Horkheimer) Eine europäische Biographie, keine Grenzerfahrung, sondern der Normalfall. Die Verwandtschaft von Barbarei und bürgerlicher Normalität ist auch Thema der dritten Erzählung: Hier geschieht nichts, als daß ein Mann darauf wartet, „in sein Verderben zu gehen, sobald der Morgen graut“. Das Verderben, ein Aufruf der „Kommandatur“, sich zum Abtransport zu melden, kommt ordnungsgemäß: „Mit Stempeln und Unterschrift der Behörde und unter Hinweis auf die Konsequenz der Widersetzlichkeit.“

Nach dem Grauen die triste Farce: In der letzten Erzählung des Bandes hat einer als Partisan gekämpft und den Krieg überstanden – was danach kommt, sind die Freuden und das Elend des Kleinbürgerlebens: Cakovic wird zum genervt-lieblosen Familienvater. Der Kriegsheld im Endstadium: ein Opfer von Eheunglück und verpfuschter Karriere, ohnmächtiges Objekt der Bürokratie. Die Streitereien mit der Frau, die apathische, sehnsuchtslose Einsamkeit, am Ende die verquälten Manöver, an eine bessere Wohnung zu kommen: Wir besichtigen einen Kümmerling in kümmerlichen Verhältnissen. Das ist traurig genug, durch die drei anderen Erzählungen, durch den geschichtlichen Rahmen wird es gespenstisch. Tišma boykottiert das übliche Pathos, mit dem die Leiden der Opfer in Sinnstiftung umgebogen werden: Der Kampf des Partisanen führt nicht in die Morgenröte eines goldenen Zeitalters, sondern in ein muffiges Büro und eine geduckte Existenz. Der Frieden kommt nach den Szenen des Krieges nicht als Erlösung; was bleibt, ist ein trostloser Alltag, vom glücklichen Leben keine Spur. Peter Laudenbach

Aleksandar Tišma: „Die Schule der Gottlosigkeit“. Aus dem Serbokroatischen von Barbara Antkowiak. Hanser Verlag, 152 Seiten, geb., 29.80 DM