■ Zum Urteil im Mielke-Bülowplatz-Prozeß
: Ein Bewältigungsrekord

Keine Vergangenheit ist hierzulande davor gefeit, von irgendeinem in guter Absicht „bewältigt“ zu werden. Das soll dem Berliner Landgericht erst einmal jemand nachmachen: 62 Jahre nach dem Doppelmord auf dem Bülowplatz fand sich ein verschlungener Weg, nacheilender Gerechtigkeit Bahn zu brechen: Der Mann mit dem Lederhut, einstmals gefürchteter Gebieter über ein graues Heer von Stasi-Tschekisten, fand nicht nur eifrige Ankläger, sondern am Ende auch gestrenge Richter. Ja, es gibt noch Richter in Deutschland – und was für welche.

Verjährung? Nun, ja – die juristische Interpretationskunst weiß sich da zu helfen. Akten eines Nazi- Sondergerichts? Nicht gerade appetitlich das, macht aber nichts – schließlich war nicht jede Rechtspflege in Deutschland, nur weil sie zufällig nach 1933 prozessierte, eine Ausgeburt des Unrechtsstaats. Selbstbezichtigungsschreiben eines Exilanten, der vor den Nazis nach Moskau geflohen war und dem auch dort nicht viel Gutes blühte, wie er aus dem Hotel Lux wußte? Aber nicht doch: „Daß Mielke ein Opfer des Stalinismus sein sollte, übersteigt das Vorstellungsvermögen der Kammer“.

Dabei werden wir gewiß keine Krokodilstränen für einen halbmumifizierten Altstalinisten, einen (der Bürgerbewegung sei Dank!) abgewrackten Stasi- Chef vergießen. Den einen oder anderen Totschlag dürfen wir Erich Mielke, der nicht erst im Moskauer Exil zum gekrümmten Kommunisten wurde, durchaus zutrauen. Darauf läßt sich freilich in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren kein Urteil gründen. Dabei ist das Verdikt gegen Mielke gewiß keine Ausgeburt der westdeutschen „Klassen“- oder „Siegerjustiz“. Es krönt auch keinen Prozeß, der nur deshalb anstößig wäre, weil er hochpolitisch eingefärbt ist. Aber auch „politische Justiz“ will eben gelernt sein. Eine verflixte Dialektik von Kontinuität und Bruch führt indes dazu, daß die deutsche Justiz bis heute keine halbwegs besonnenen Maßstäbe für ihre „Rechtspflege“ findet. Dazu gehört offenkundig das Unvermögen, in vernünftiger Reihenfolge anzuklagen. Oder können wir uns vorstellen, die Alliierten hätten einen vom Schlage Görings in Nürnberg nicht wegen seiner Nazi- Untaten angeklagt, sondern ihm zuallererst einen Amateurmord aus der Kampfzeit Weimarer Saalschlachten übelgenommen?

Justizkritik weiß zwischen marginalen Entgleisungen, normaler Härte des Alltagsgeschäfts und verstocktem Unsinn zu unterscheiden. Das Urteil gegen Mielke gehört zweifellos zur letzteren Kategorie. Eben weil es den bösen Anschein setzt, die Nazi-Sonderjustiz erfahre einen Hauch rechtsstaatlicher Weihe. Das Urteil ist daher 1 – in Worten: eine – Schande, die auch nicht durch das opportunistische Hantieren am Strafmaß gemildert wird („verhältnismäßige“ sechs Jahre statt lebenslänglich).

Wieviel Juden muß einer umgebracht haben, um in Deutschland 62 Jahre nach der Tat seine Ankläger und Richter zu finden? Gerechnet ab Mai 1945, kommen wir immerhin auf das Jahr 2007. So bitten wir denn jene, welche den ewigen Kalender verwalten, aus dem die schreibende Zunft ihre runden Jahreszahlen bezieht, einmal eine Ausnahme zu machen und dieses Datum: Mai 2007, sorgfältig zu notieren.

Ob sich bis dahin wenigstens ein Nazimörder auftreiben läßt, an dem deutsche Juristen ihre Bewältigungstollheit unter Beweis stellen können? Um das Vergangenheitsdelirium schön ausgewogen und antitotalitaristisch zu gestalten, schlagen wir vor, diesen einen Nazimörder möglichst anhand von Justizunterlagen und Zeugenaussagen zu verurteilen, die Hilde Benjamin und ihre Helfershelfer der DDR-Justiz fabrizierten. Über all der Bewältigungsarbeit befällt uns der hartnäckige Verdacht, hierzulande werde Vergangenheit durch ihre Bewältigung erst richtig schön. Horst Meier

Jurist & Autor, lebt in Hamburg