Wolf war „Täter hinter Tätern“

Die Bundesanwaltschaft plädiert für einen Wende-Rabatt bei der Bestrafung des einstigen DDR-Spionagechefs Markus Wolf – sie fordert dennoch sieben Jahre Haft  ■ Von Johannes Nitschmann

Düsseldorf (taz) – Zunächst plädierte die Bundesanwaltschaft in eigener Sache. Im Strafprozeß gegen den ehemaligen DDR-Spionagechef Markus Wolf (70) sei es nicht darum gegangen, „eine Symbolfigur“ des zusammengebrochenen SED-Regimes „kreuzzugartig zu verfolgen“, verteidigte sich Bundesanwalt Joachim Lampe. Bevor der Ankläger nach 41 Verhandlungstagen vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf seinen Strafantrag stellte und wegen fortgesetzten Landesverrats in Tateinheit mit Bestechung eine siebenjährige Freiheitsstrafe für den einstigen Generaloberst forderte, versuchte er das Vorgehen seiner Behörde zu rechtfertigen: Bei den Straftaten des Angeklagten handle es sich um „häßliche Dinge“, die keineswegs „Exzesse des Kalten Krieges“ gewesen seien. Kein Land der Welt nehme es hin, „daß seine Staatsgeheimnisse verraten werden“.

„Welches Land soll ich verraten haben?“ hatte der frühere Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung zu Prozeßbeginn seine Richter gefragt und spitz darauf hingewiesen, daß sein bundesdeutsches Pendant, der ehemalige BND-Chef Klaus Kinkel, schließlich zum Außenminister avancierte, während er nun die Anklagebank drücken müsse. Diese Verteidigungstaktik Wolfs, beklagt Ankläger Lampe, habe „in einem Teil der Medien durchaus Erfolg gezeigt“.

Deshalb sieht sich die Bundesanwaltschaft unter Rechtfertigungsdruck. „Wir sind die letzten, die Markus Wolf seine Meisterschaft auf dem Gebiet der Desinformation bestreiten“, erweisen die Ankläger dem professionellen Handwerk des in der Boulevardpresse zum „Superspion“ geadelten Angeklagten ihre Referenz. Doch, so versichert Lampe, ihn treibe „nicht Rache“, den einstigen DDR-Geheimdienstchef hinter Gitter zu bringen, sondern allein Recht und Gesetz.

Unter Rechtsexperten ist längst nicht ausgemacht, ob die Spionagetätigkeit des DDR-Generaloberst Markus Wolf überhaupt nach bundesdeutschem Recht beurteilt werden darf. Das Bundesverfassungsgericht wird darüber das letzte Wort zu sprechen haben. Solcherlei Bedenken plagen die Bundesanwälte nicht, über verfassungs- und völkerrechtliche Bedenken setzen sie sich in ihrem mehr als dreistündigen Plädoyer wortreich hinweg.

Für die Bundesanwaltschaft ist Wolf „der Täter hinter den Tätern“, der von 1953 bis 1986 auf dem Boden der Bundesrepublik permanent 500 Spione befehligt habe. Der legendäre „Mann ohne Gesicht“ habe mit seinen nachrichtendienstlichen Operationen nicht nur eine „ernste Gefahr für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik“ heraufbeschworen, er habe auch zahlreiche Menschen „in Schuld und Strafe geführt“. Seine Agenten habe der DDR-Geheimdienstchef in allen politischen Schaltzentralen der Bundesrepublik plaziert; in den Parteien und Ministerien sei er genauso vertreten gewesen wie bei den Geheimdiensten. Ein verlegenes Lächeln provoziert Oberstaatsanwalt Wolfgang Siegmund bei dem Angeklagten, als er ihm vorhält, über die vor einigen Jahren verstorbene grüne Abgeordnete Brigitte Heinrich „auch im Europaparlament gesessen“ zu haben.

Sogar ins Brüsseler Nato- Hauptquartier habe Wolf seine Agenten eingeschleust. Der DDR- Geheimdienstchef sei durch den erst während des Düsseldorfer Prozesses aufgeflogenen Superspion Rainer Rupp („Topas“) über die „Lageberichte, Streitkräfteplanung und Schwachstellen“ der Nato jederzeit lückenlos im Bilde gewesen. Über die fehlenden Skier bei der Winterausrüstung des luxemburgischen Heeres sei Wolf ebenso informiert worden wie über die technischen Mängel beim Kampfpanzer Leopard II.

In mindestens dreißig Spionagefällen sei Wolfs „direkte Einflußnahme auf die Operation“ nachgewiesen. Der Angeklagte habe seine Agenten „mit Zuckerbrot und Peitsche“ behandelt, er habe sie erpreßt und bedroht; besonders „verwerflich“ seien die Praktiken der Wolfschen „Romeo-Agenten“ gewesen, die in Bonn und anderswo auf alleinstehende Sekretärinnen in Ministerbüros und Führungszentralen angesetzt worden seien. Hinweise der Verteidigung, daß sich der BND schließlich ähnlicher Praktiken bediene, kontern die Bundesanwälte: „Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.“ Den Vorwurf des Landesverrats stützen die Bundesanwälte auf die Fälle des Kanzleramts-Spions Günter Guillaume, des BND- Doppelagenten Alfred Suhler und des kürzlich enttarnten Nato-Spions Rainer Rupp. Im Falle des Verfassungsschutz-„Maulwurfs“ Klaus Kuron lassen die Ankläger den Landesverratsvorwurf fallen. Bei der Frage der Strafzumessung erinnert Ankläger Lampe an den Prozeß gegen Guillaume, der in dem gleichen fensterlosen abhörsicheren Düsseldorfer OLG-Gerichtssaal die Anklagebank gedrückt hatte wie Wolf. „Was hätten wir wohl gesagt, wenn Wolf damals mit ihm hier gesessen hätte? Wie hätten wir vor der Wende gesehen, was Wolf getan hat?“ fragt Lampe. Die von Wolf geführten Spione seien zu hohen Freiheitsstrafen abgeurteilt worden. Es gehe nicht an, dem „warm und trocken“ an seinem Schreibtisch in Ostberlin sitzenden Leiter der DDR-Auslandsspionage „eine Extrawurst zu braten“.

Immerhin räumen die Bundesanwälte ein, daß der Angeklagte aufgrund seiner Tätigkeit als hochrangiger Staatsbeamter der ehemaligen DDR „im jetzigen Deutschland“ eine Art „Vertrauensschutz“ für sich reklamieren könne. Dieser Vertrauensschutz sei allerdings eng an das „Nachtat- Verhalten“ geknüpft. Wolf habe sich zwar schließlich gestellt, gegenüber den Behörden aber keine Kooperationsbereitschaft gezeigt und mit einer fadenscheinigen Berufung auf sein „Ehrverständnis“ die Preisgabe weiterer Spione hartnäckig verweigert. Dennoch geriert sich die Bundesanwaltschaft generös und räumt Wolf einen 50prozentigen Wende-Rabatt bei der Strafzumessung ein. In der Vorwendezeit hätte er bei den Wolf nachgewiesenen Straftaten eine 14jährige Freiheitsstrafe beantragen müssen; nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation und dem Versäumnis der DDR, im Einigungsvertrag „einen Schutz“ für ihre Spionageoffiziere auszuhandeln, halte er jedoch eine Gefängnisstrafe von sieben Jahren für „ausreichend und angemessen“, erklärte Lampe.

Am Ende ihres Plädoyers beantragt die Bundesanwaltschaft, den derzeit für eine Kaution von 250.000 Mark ausgesetzten Haftbefehl gegen Wolf umgehend wieder in Vollzug zu setzen. Schließlich bestehe nach dem Strafantrag nun „akute Fluchtgefahr“. Das Gericht ist anderer Meinung und entläßt Wolf einstweilen als freien Mann. Der Strafsenat will erst bei der Urteilsverkündung – voraussichtlich 6. Dezember – über eine Wiedereinsetzung des Haftbefehls entscheiden.