Heilige Kapaune

Anschaulich, aber nicht sensationalistisch: „Engel wider Willen“, Hubert Ortkempers Kulturgeschichte des Kastratentums  ■ Von Henrike Thomsen

Giacomo Casanova hat's gefallen. „Die Stimme des Kastraten war herrlich“, schreibt der venezianische Schriftsteller 1761 nach einem Besuch im römischen Teatro Aliberti, „noch herrlicher aber war seine Schönheit.“ Sechzig Jahre später verkündet Stendhal, nachdem er den Kastratenchor des Vatikan gehört hat: „Ich habe noch nie eine abscheulichere Katzenmusik gehört.“

Sechzig Jahre, in denen eine neue Ära angebrochen ist. Die beiden so unterschiedlichen Wertungen spiegeln den Übergang vom Zeitalter des Barock zur Aufklärung. Und genau diesen Streit um die „heiligen Kapaune“, der die Epochen trennt, beschreibt anschaulich ein Buch von Helmut Ortkemper, unlängst im Henschel- Verlag erschienen. „Engel wider Willen“ liefert mit wohltuend wenig kulturhistorischem Voyeurismus eine soziologische und musikhistorische Einschätzung des Kastratentums.

Ihren Anfang nahm diese 300jährige europäische Gesangstradition in den italienischen Konservatorien des späten 16. Jahrhunderts. Die „Bewahranstalten“ für Findelkinder hielten sich mit Knabenchören finanziell über Wasser. Je mehr sie zu musikalischen Zentren wurden, desto selbstverständlicher schien die Idee, die einträglichen Soprane über die Pubertät hinaus zu erhalten. Aber nicht nur Gesangslehrer, auch viele arme Eltern verlockte das Geschäft mit der schönen Stimme. Nach zeitgenössischen Berichten wurden ab dem 17. Jahrhundert in Italien jährlich Tausende von Jungen kastriert. Im „günstigen“ Falle durchtrennte ein Arzt die Samenkanäle, im ungünstigen schnitt ein Barbier einen oder beide Hodensäcke weg. Viele Kinder verbluteten nach dem verbotenen Eingriff. Diejenigen, die den Sprung auf die Opernbühne oder in einen bedeutenden Kirchenchor nicht schafften, waren durch Stimme und Wuchs als Gescheiterte gebrandmarkt.

Was im Leben Außenseiter produzierte, war in der Kunst Ausdruck eines Ideals. Die physiologische Seite: Ohne Keimdrüsen unterbleibt bei Jungen die hormonell bedingte Vergrößerung des Kehlkopfes und der Stimmlippen, der Stimmbruch also. Der Effekt: Die Stimme des Kastraten wird „zeitlos“. Umfang und Beweglichkeit machten Zeitgenossen, die den Aufstieg des Kastratentums erlebten, staunen: „Mit Trillern in halben Tönen ohne Unterbrechung bei allmählich leicht verstärkter Stimme von der hohen Oktave a'' und g'' in die mittlere a' und g' herabzugleiten, war für ihn soviel wie nichts“, berichtet der Historiker Giovanni Andrea Bontempi 1695 über Baldassare Ferri. Über die Stimme von Carlos Broschi (alias Farinelli) heißt es: „...eine durchdringende, völlige, dicke, helle und gleichgültige Sopranstimme, deren Umfang sich vom a bis zum d''' erstreckte.“

Der Preis für das Ideal war hoch. Wie zahlreiche Karikaturen in Ortkempers Buch belegen, verläuft die körperliche Entwicklung der Kastraten langsam und unkontrolliert: mädchenhaft schön in der Jugend, extrem hager in den mittleren Jahren und fett im Alter. Und doch war es nicht nur die Stimme, sondern auch der Körper der Kastraten, der ästhetisch reizte.

Casanova etwa faszinierte die androgyne Ausstrahlung vieler jugendlicher Soprane – wie die gezierte Ambivalenz der Kastraten überhaupt dem barocken Schönheitsbegriff entspricht. „Die Künstlichkeit der Oper, in der die Menschen sangen und nicht sprachen, wurde durch die Kastraten auf die Spitze getrieben“, schreibt Ortkemper. „In (ihnen) erfüllten sich die hermaphroditischen Wunschträume des Barock.“

Kein Wunder also, daß die musikalische Devise des frühen 18. Jahrhunderts „Viva el cortello“ hieß: Es lebe das Messer. Ohne Kastraten war keine Fürstenhochzeit zwischen Rom und Dresden denkbar, ohne sie mußte Händel die Pforten seiner „Königlichen Musikakademie“ in London schließen. Es gab sogar Spitzenverdiener unter den Kastraten, frühe

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Stars: Der Sopran Senesino verdiente an der Italienischen Oper in Dresden 6.650 Taler im Jahr, während der deutsche Kapellmeister Heinichen sich mit 1.200 Talern begnügen mußte. Zur Legende wurde der Aufstieg von Farinelli, der ab 1737 den depressiven spanischen König Philipp V. mit seinem Gesang aufheiterte und noch über Philipps Sohn und Nachfolger Ferdinand solche Macht hatte, daß Voltaire in „Candide“ darüber lästert: „...andere erhalten dadurch (durch die Kastration, d.A.) eine Stimme, die die weibliche an Schönheit übertrifft, wieder andere ziehen aus, um Länder zu regieren.“

Doch mit der neuen Ära wandelten sich auch die ästhetischen Grundmuster: Die Aufklärung begreift die gezüchteten Stimmen nicht mehr als Errungenschaft, sondern als Perversion des Natürlichen, des zentralen Begriffs aufklärerischer Ästhetik. 1767 tut Rousseau in seinem „Wörterbuch der Musik“ kund, nur zum Vergnügen „wollüstiger und grausamer Leute“ müßten die Kastraten singen. Ihre Stimmen seien zwar schön, aber „ohne Wärme und Leidenschaft“. Friedrich Schiller wettert gegen das „schlappe Kastratenjahrhundert“. Gluck schreibt seine Kastratenarie „Ach, ich habe sie verloren“ (in „Orpheus und Eurydike“) für Tenor um. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnt der Verfall der kulturellen Bedeutung des Kastratentums – so langsam allerdings, daß man allein daran ihre kulturelle Bedeutung ablesen kann.

Welche Faszination ihre Stimmen noch im 19. Jahrhundert auf manchen Gralshüter der Tugend ausübten, zeigt das Beispiel Richard Wagners. Wagner, berichtet Ortkemper, habe die Rolle des Klingsor im „Parsival“ für einen Kastraten schreiben wollen, nachdem er den Leiter der päpstlichen Kapelle, Domenico Mustafa, hatte singen hören.

Mustafas Nachfolger Alessandro Moreschi, der letzte Kastrat des Vatikans, hatte den Beinamen „Engel von Rom“. Er sang ganz selbstverständlich bei italienischen Staatsakten, zum Beispiel bei den Begräbnissen zweier Könige. Ein Umstand, dem sich auch das einzige Tondokument eines Kastraten verdankt. Als sich der greise Papst Leo XIII. 1902 einer Plattenaufnahme verweigerte, hielt man statt dessen die Stimme Moreschis fest. Moreschi, schreibt der Wiener Musikexperte Franz Haböck, habe noch im hohen Alter wie ein Jugendlicher gewirkt – was nichts daran änderte, daß er ein Nachzügler eines verschwindenden Kulturphänomens war. Der letzte Kastrat starb 1922.

Hubert Ortkemper: „Engel wider Willen“. Henschel-Verlag, Berlin 1993, 415 Seiten, 49,80 DM.

Alessandro Moreschi: „The last Castrato“. CD Pearl 9823 (über Helikon).