Die Ausnahme und die Regel

Vom Peking-Hotel über die Louvre-Pyramide zum Hongkong-Tower: Die ostasiatische Architektur Ieoh Ming Peis  ■ Von Robert Kaltenbrunner

In der drängenden Ökonomie der Zeit, die den Alltag Hongkongs bestimmt, definieren – wie könnte es anders sein – zwei Bankzentralen das Terrain. Inmitten der himmelstürmerischen Faszination dieser „totalen Stadt“ konkurrieren Norman Fosters „Hongkong and Shanghai Banking Corporation“ und jener kristalline Tower mit technizistischem Anstrich, die von Ieoh Ming Pei gestaltete „Bank of China“, um die Vorherrschaft. Auf den Schultern der Ästhetik wird damit ein Kampf weltanschaulichen und politischen Inhalts ausgetragen. Von wegen one country – two systems: An dieser Stelle reiben sich die Einflußsphären zweier Gesellschaftsordnungen, hier kondensiert die Frage nach ihrer Zukunft. Es scheint, als hätte im Wettlauf der Systeme, dessen Tempo lange Zeit vom „Markt“ bestimmt wurde, plötzlich der „Plan“ – und zwar buchstäblich – die Spitze übernommen. Peis dynamisches Prisma, angeblich „Sinnbild für die Modernisierungsbestrebungen Chinas“, macht's möglich.

Die Auseinandersetzung ist nicht eindeutig mit architektonischen Maßstäben zu beantworten, obgleich der Widerstreit sich ihrer Mittel bedient. Fosters kunstvolle Bankmaschine, als teuerstes Gebäude der Welt apostrophiert, steht für die stilistische und formale Kontinuität seines Schöpfers, gemeinhin unter „High-Tech“ rubriziert. Peis ×uvre dagegen ist größeren Schwankungen unterworfen. Spätestens seit dem von Mitterrand protegierten Louvre- Projekt genießt das Werk des „Amerikaners“ Pei nachhaltige Popularität in Europa. Mit den kulturellen Wurzeln seiner Architektur allerdings hat sich niemand beschäftigt.

Die Errichtung des Bankgebäudes ist der vierte Akt eines Stückes, dessen Schauplatz in Ostasien liegt. Sein erster wurde 1947 uraufgeführt. Er hatte ein Museum für chinesische Kunst zum Gegenstand. Ausgehend von der Idee, chinesische Kunst – im Gegensatz zur westlichen – untrennbar mit dem Ausstellungsort zu verbinden, wird als integraler Teil der Architektur ein innenliegender Teegarten und eine hohe Umfassungsmauer konzipiert, gleichsam als eine Metapher des klassischen chinesischen Hauses. Ein junger Architekt namens I.M. Pei (Bei Yuming), 1917 in Kanton geboren, der am MIT in Massachusetts und später an der Harvard-University studierte und dabei zum Freund Philip Johnsons wie zum glühenden Verehrer der Neuen Sachlichkeit wurde, entwarf eine Ausstellungshalle für Shanghai, deren kreatives Potential und ideeller Gehalt Walter Gropius zu einer schriftlichen Stellungnahme animierte. Dieses Projekt illustriere deutlich, so der ehemalige Direktor des Bauhauses, daß ein fähiger Architekt sehr wohl an grundlegenden traditionellen Erscheinungen festhalten könne, ohne seine progressive Grundhaltung dafür opfern zu müssen. Mr. Pei sei umsichtig darauf bedacht gewesen zu vermeiden, daß in rein oberfächlicher Art und Weise chinesische Motive einfach an den Bau geklebt würden, wie so häufig bei öffentlichen Bauvorhaben zu beobachten. Vielmehr sei es ihm darum gegangen herauszufinden, wie der Charakter, das Wesentliche der einheimischen Architektur ausgedrückt werden könne, ohne formale Anleihen bei früheren Perioden tätigen zu müssen.

Trotz des Lobes seitens der Autorität: aus dem Projekt wurde nichts. Die Gründe liegen auf der Hand; wie auch hätte es realisiert werden können in einer Stadt, die in der Endphase eines mörderischen Bürgerkriegs stand. Zudem: An Kultur dachte die Kuomintang-Spitze um Chiang Kai-shek am wenigsten. Der Vorhang also fiel. Er öffnete sich erst gut 15 Jahre später wieder, mit der Einweihung der Henry-Luce-Kapelle auf dem Campus der Taichung- Universität in Taiwan. Der gleiche „Schauspieler“ betritt die Bühne. Tatort Heimat? Der Bauherr jedenfalls heißt wieder Kuomintang.

Ein Gleichnis betender Hände mit dem Schwung traditioneller Tempeldächer: die Kapelle folgte zwar dem Zeitgeist, der nach der Befreiung architektonischer Formen rief, nach expressiven Vielfältigkeiten mittels Schalenkonstruktionen und extrem reduzierten Hüllen, andererseits überträgt sie die wiedergefundene (und mancherorts als barock empfundene) Plastizität sinnfällig und selbstbewußt in eine andere Kulturregion. Daß sie darüber hinaus besonders taifunresistent und zudem konstruktiv neuartig war, darf dem Architekten zugute gehalten werden.

Laut „Macmillans Encyclopedia“ zur Architektur leistet Pei mit seinem zweiten Frühwerk ein weiteres Glanzstück sich ein- oder anpassender Architektur, womit er augenscheinlich erneut ein tiefes Verständnis für China und seine Geschichte unter Beweis stelle. Allerdings: Verständnis für ein konfuzianisch geprägtes, autoritär beherrschtes China? Der avantgardistische Architekt als Büttel eines reaktionären Regimes? Schweigen und eine lange Umbaupause. Als sich dann der Vorhang ein drittes Mal hebt, erscheint das Bühnenbild zur Gänze umgebaut. Schauplatz Peking, Volksrepublik. Eine neue Regie gibt, so scheint's, der Handlung eine andere Richtung. Der Protagonist aber bleibt.

Im Herbst 1982 feierten Parteikader und Angehörige des internationalen Jet-sets den Einzug in das Xiangshan- oder Fragrant-Hills-Hotel. Der luxuriöse Baukomplex in den Westbergen, 20 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt, steht auf traditionsreichem Grund und jenseits der üblichen Hotelbauweise. Im doppelten Wortsinne ein vielschichtiges Hofhaus, wirbt es mit der Vermittlung eines chinesischen Raumgefühls und höchst dezenter Monumentalität um die Gunst seine Gäste: in die Landschaft eingebettet, ausbalanciert mittels Topographie, jedoch ohne strenge Symmetrie. Mit weißem Putz und chinesischem Ornament, erweist es sich als geglückte naturräumliche Komposition unter Einbeziehung modernster Technik. Das Foyer wird dabei als „klassischer“ Hof interpretiert, und beidem – nämlich Funktion und Tradition – getreu, mit einer gläsernen Pyramide überdeckt (ein deutlicher Verweis auf das spätere Louvre-Projekt).

Die Herberge gehört, das wurde schnell offenbar, zu jenen Bauten, denen man in der Architekturgeschichte des neuen China einen besonderen Platz einräumen muß. Es steht, gewollt oder ungewollt, in der Tradition der exemplarischen Stilbauten, um die sich die Debatten zur „Nationalen Form“ (der chinesischen Referenz an den Sozalistischen Realismus) ranken, und bricht zugleich mit ihr. Freilich: der staatliche Auftrag ließ dem Architekten, ganz ungewöhnlich für sozialistische Gepflogenheiten, mehr oder minder freie Hand. Der „amerikanische Superstar“, wie die chinesischen Kollegen ihren gebürtigen Landsmann ironisch-ehrfürchtig nennen, wird zum gefeierten Helden in der Volksrepublik, wiewohl die Art der Vergabe vereinzelt auf Kritik in der Fachgemeinde stößt.

Böse Zungen behaupten, Peis Hotel auf den „duftenden Hügeln“ sei das einzige Beispiel zeitgenössischer Architektur in Peking, das diesen Namen verdiene. Tatsächlich kommt der Entwurf im Ergebnis einem chinesischen Post-Historismus nahe, aber nicht die Formen und auch nicht die allseits gepriesene Verbindung von Innen- und Außenräumen zeichnen ihn am meisten aus, sondern die politische Stringenz, mit der die alten Diskussionen hier überholt, ja stehengelassen wurden. Galt in den Jahren zuvor ein sehr viel enger gesetzter Bedingungsrahmen, das heißt ein aus der Geschichte zu extrahierender Formenkanon und/oder das Plazet einer fachexternen Instanz – nämlich der Partei –, so verhieß die von Pei frisch installierte Grenzlinie, daß es allein der kreativen Schaffenskraft und fachlichen Kompetenz des Architekten obliegen sollte, im Bauen Tradition zu wahren und einen zeitgemäßen Stil hervorzubringen.

Die Diskussion über die Freiheit der Kunst in einer sozialistischen Gesellschaft wurde aus ihrem überlebten Gleichgewicht geworfen. Daß der gebürtige Chinese Pei von seinen Erfahrungen im kapitalistischen Ausland her neue Wege der modernen chinesischen Architektur erkunden und gewissermaßen von „außen“ den zeitgenössischen, am internationalen Standard angesiedelten Zugang zur Traditon vormachen sollte: dies sprengte alle Rahmen und versprach für die Zukunft „Architect's Imaginative Power“ (so überschrieb die Pekinger China Daily am 5. 5. 1983 ihren Artikel über die Einweihung des Hotels).

Peis Hotel trug dazu bei, die Entfaltungsmöglichkeiten der Architektur in der VR China neu zu definieren. Man könnte dies als Zufallsergebnis abtun, wäre da nicht der Umstand, daß I.M. Pei dergleichen offenkundig anstrebte, indem er bereits im Dezember 1978 an der Pekinger Qinghua-Universität Vorträge und Lehrveranstaltungen abhielt. Demnach wollte er bewußt Einfluß nehmen. Er engagierte sich für seine (und damit: die) Architektur, also gegen das Weisungsrecht der Partei – selbst wenn er letztere als Auftraggeberin bereitwillig akzeptierte. Und der Einfluß reichte weit; die gesamte Kulturbranche vermochte aus dieser Intervention ein neues Selbstbewußtsein zu schöpfen. So hat er mit einem Bau in Peking Grundsätzliches geleistet – dreidimensionale Architekturtheorie, wenn man will. Ein Zeichen der (Neu-)Zeit für Chinas Architekten. Rief ihn dann das Weltniveau aus der architektonischen Provinz zurück zum schicken Design?

Erneuter Szenenwechsel. Hongkong: Das prismatisch-kristalline Zepter der Macht wirft einen langen Schlagschatten. Bedrohlich ist es erst seit dem 4. Juni 1989, vorher galt es eher als wohltuend kühl. Denn der Herr, der es schwingt, ist die KP Chinas. Sein Schöpfer hatte die Feuertaufe in Peking (aus der Sicht der Partei) erfolgreich absolviert. Er enttäuschte die Hoffnungen nicht, kreierte ein geschliffen scharfes, spiegelnd-undurchsichtiges Antlitz für den künftigen Regenten Hongkongs. Geradezu ruppig und ungelenk wirkt der frühere, von Foster ausgestattte Machthaber gegen dieses glatte, spitze Symbol.

I.M. Pei, Sohn des früheren Präsidenten der Bank of China, ist wieder zurück in der Welt der großen Architektur. Was zunächst als Ausnahme in seinem „ostasiatischen“ Werk erschien, der klare puristische Körper mit der Suggestion von „Edelstein“, reiht sich nahtlos ein in das Werk des „amerikanischen“ Architekten. Die Ausnahme hieß „Peking“, und sie hat die Regel bloß bestätigt. Wenn aber die Bezüge so beliebig sind, welchen Wert mag dann eine auch noch so reine Form aufweisen?

Entwürfe von Ieoh Ming Pei sind bis zum 27.2. in der Ausstellung „Hongkong-Architektur. Die Ästhetik der Dichte“, Deutsches Architekturmuseum / Frankfurt a.M., zu sehen. Der Katalog (Prestel) kostet 39 Mark.