Alles nur ein Vollzugsdefizit?

Warum die Strafjustiz nicht angemessen auf die Gewaltverbrechen gegen Ausländer reagiert  ■ Von Monika Frommel

Im März erging das Urteil im berühmten Hünxe-Fall. Der Tötungsvorsatz wurde mit folgender Begründung verneint: „... die Einlassung der Angeklagten, sie hätten es niemals für möglich gehalten, daß durch ihre Tat ein Mensch getötet werden könnte, noch viel weniger hätten sie dies gewollt oder nur billigend in Kauf genommen ...“, sei nicht zu widerlegen. „Die Angeklagten befanden sich in einer Ausnahmesituation. Sie begingen zum ersten Mal in ihrem Leben eine strafbare Handlung und gleich eine von solchem Format. [...] In einer solchen Situation denkt man nicht in Sekundenschnelle jede mehr oder weniger wahrscheinliche Konsequenz eines neu aufgetretenen Aspekts seiner Handlung zu Ende. Hinzu kommt, daß schon vor der Tat der Angeklagten das Werfen von Molotow-Cocktails bei politischen Aktionen verschiedenster Art keine Seltenheit war. Durch die Berichte in den Medien konnte fast ein Gewöhnungseffekt eintreten, und zwar auch daran, daß in der Regel nur Sachschaden entstand, während es für die Menschen glimpflich abging. [...] Es darf auch nicht verkannt werden, daß aus der politischen Motivation der Angeklagten sogar ein Argument für die Begrenzung ihres Vorsatzes abgeleitet werden kann. Es liegt schwerlich in den Intentionen eines politischen Täters, daß statt einer Solidarisierung mit der Tat in der Bevölkerung ein Mitleidseffekt mit den Opfern erzielt wird. Genau das aber war zu erwarten, wenn Menschen getötet wurden oder Kinder qualvoll verbrannten.“

So spricht Biedermann und wundert sich, daß Brandstifter dies als latente Zustimmung sieht. Der Sinn einer dogmatischen Kunstlehre liegt in ihrem Unterscheidungsvermögen. Nicht der Täter soll verteufelt, sondern die Tat verurteilt werden. In Hünxe war dies kein gefährlicher Angriff auf ein Gebäude, sondern auf das Leben der im Haus schlafenden Menschen. Die jugendlichen Angeklagten hatten nachts Brandsätze gegen die Fenster eines Hauses geworfen, ein Zimmer in Brand gesetzt und zwei der vier schlafenden Kinder im Alter von fünf bis zehn Jahren für ihr Leben durch Brandwunden entstellt. Das Urteil erging in einer Zeit, in der sich bereits eine traurige Routine im Umgang der Justiz mit derartigen Fällen gebildet hatte. Ich teile bewußt die Höhe der verhängten Strafe nicht mit, da es nach meiner Überzeugung (nicht nur im Jugendstrafrecht) weniger darauf ankommt, „wieviel“ der Täter bekommt, sondern ob seine Tat adäquat beschrieben wird. Letzteres ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Der Fall ist paradigmatisch, da sich spätestens zu diesem Zeitpunkt eine zunächst noch unsichere dogmatische Regel zu einer herrschenden Meinung verfestigt hat.

Die Strafjustiz hat als Institution reagiert. Der Vorwurf der Blindheit auf dem rechten Auge trifft ihre Dogmen, nicht die dort tätigen Personen. Herrschende Meinungen werden in der Justiz nicht demokratisch abgestimmt, sondern durch einen Instanzenzug von oben nach unten festgelegt. Sie lautet: Läßt sich nachweisen, daß der Tod geplant war (direkter Tötungsvorsatz), wie etwa im Stuttgarter Verfahren gegen die Täter in Kemnat (Mai 1993), dann wird relativ hart bestraft. In diesem Verfahren wurde ein erwachsener Täter mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen heimtückischen Mordes bestraft. Läßt sich ein direkter Vorsatz nicht nachweisen, und das ist bei subjektiven Tatmerkmalen eher die Regel, werden unbegreiflich hohe Anforderungen an den bedingten Tötungsvorsatz gestellt. Sagt der Angeklagte: Ich wollte nicht töten, nur erschrecken, dann hat er gute Chancen, nach den relativ milden Maßstäben verurteilt zu werden, die sich bei Konflikt- und Affekttaten, also Taten im sozialen Nahraum, gebildet haben. Es erübrigt sich, zu betonen, daß Aggressionen zwischen Menschen, die sich gut kennen, deren Gefühle aber in Haß und Wut umschlagen, einer ganz anderen Logik folgen als Angriffe auf Unbekannte. Die Bedrohung, Vertreibung und Ermordung von „Fremden“ ist kein Konflikt. Die Täter leugnen das Existenzrecht einer Gruppe von Menschen. Dieser Hintergrund der Taten wird in Urteilsbegründungen weitgehend ausgeblendet.

Aber wieso kommt eine juristisch informierte Kritik von außen und nicht – wie etwa bei den Entscheidungen zur Sitzblockade – von innen? Offenbar scheuen sich kritische JuristInnen, eine „Lösung sozialer Konflikte mit Mitteln des Strafrechts“, wie das Problem häufig umschrieben wird, zu empfehlen. Diese Ambivalenz prägt offenbar auch die Diagnose von Klaus Breymann und Frank Baumgarten. Schwierig finde ich schon die Sprache. Ein Überfall auf ein Asylbewerberheim ist kein „Konflikt“. Es ist auch nicht erforderlich, die Täter in die Gesellschaft zu „integrieren“. Jungmännerbanden, die solche Taten verüben, sind sozial integriert. Die Täter kämpfen nicht „um ihren Platz in der Gesellschaft“, wie angenommen wird. Sie verteidigen ihr Gesellschaftsbild gegen „Fremde“. Ich fürchte, die jungen Täter kommen deshalb aus „der Mitte unserer Gesellschaft“, weil sie bereits Teil einer rechten Dominanzkultur sind. Auch die These, das Jugendstrafrecht müsse weiter „ausgebaut“ werden, unterstellt, die Strafjustiz habe bislang angemessen reagiert und könne dies – ohne Intervention von außen – auch in Zukunft. Breymann und Baumgarten gehen davon aus, daß ihr rationales Bemühen um Prävention und Integration rechtsrdikaler Jugendgewalt für die Institution exemplarisch ist und eine an und für sich intakte Strafjustiz durch die unsäglichen innenpolitischen Thesen der CDU/CSU gestört wird. Auch ich lehne den wohlfeilen Ruf nach „Verschärfung des Jugendstrafrechts“ ab. Aber angemessen reagiert hat die Strafjusitz als Institution bislang nicht. Ich verstehe zwar bis zu einem gewissen Grad die Identifikation mit der Justiz, schließlich müssen fortschrittliche StaatsanwältInnen und RichterInnen erst einmal intern Überzeugungsarbeit leisten. Aber aus meiner – bequemen – externen Sicht greift die Analyse zu kurz.

Jugendgewalt kann ein Protest sein, aber über diese Art von Gewalt reden wir hier nicht. Überfälle auf Menschen, denen das Existenzrecht abgesprochen wird, und das ist der Kern des Problems, worüber wir im Moment sprechen, ist kein Protest, sondern die gewaltsame Umsetzung einer alltäglich erlebten Ausgrenzung: Herrschaftsausübung mit illegalen Mitteln. Deshalb das Bild vom „Biedermann“ und den „Brandstiftern“. Die Aktivisten und Mitläufer lernen in ihrem Alltag, daß ihre potentiellen Opfer „eigentlich“ kein Existenzrecht haben sollten. Sie praktizieren in ihren Jungmännerbanden, worüber an Stammtischen „nur“ geredet wird. Sie sind Teil einer rechten Dominanzkultur, die bis in die politische Mitte der Gesellschaft reicht. Deswegen sind sie für ihre Opfer so bedrohlich. Zu viele Unbeteiligte verstehen die Ziele der Täter und mißbilligen „nur“ die gewaltförmigen Mittel. Rechtsradikale Jugendliche sind also nicht „ausgegrenzt“. Sie müssen nicht „integriert“ werden. Im Gegenteil: sie greifen Menschen an, die ihrerseits „ausgegrenzt“ sind. Reden wir also nicht nur über die Täter, sondern über die Integration ihrer Opfer. Stärken wir die andere, humane Seite der Kultur: auch mit Mitteln des Strafrechts, so paradox dies klingt. Jede Gesellschaft hat das Strafrecht, das sie verdient. Es ist möglich, die Taten zu ahnden und die Täter dennoch nicht zu dämonisieren. Eine solche Strafkultur haben wir noch nicht. In der Realität der zahllosen, in der taz regelmäßig dokumentierten Strafverfahren wurde oft alles andere als klar reagiert. RichterInnen haben häufig einen „hilflosen“ Eindruck hinterlassen, Taten bagatellisiert, zu häufig sind unangemessene Urteilsbegründungen ohne höchstrichterliche Kontrolle geblieben.

Die innenpolitischen Thesen der CDU zur „Bekämpfung des politischen Extremismus und der politisch motivierten Gewalt“ sind alles andere als eine rationale Reaktion auf ein schwieriges Problem. Sie heizen aus wahlkampftaktischen Gründen eine Debatte an, die zugleich sinnlos und gefährlich ist. Eine Verschärfung des Jugendstrafrechts verbaut jeden konstruktiven Umgang mit jugendlichen Tätern. Die unsäglich verallgemeinernden Thesen zur „Gewaltbereitschaft“ Jugendlicher ebnen ein, was man unterscheiden sollte, Jugendprotest auf der einen und rechtsradikale Überfälle auf der anderen Seite. Die Vorschläge gehen an den Problemen der Strafverfolgungsinstanzen völlig vorbei. Es ist sinnlos, Gesetze zu verschärfen, wenn die Institution Strafjustiz die vorhandenen Regeln nicht nutzt, sondern umdeutet.

Strafgerichte können Täter weder bessern noch durch „mehr vom selben“ abschrecken. Sie können aber fundamentale Normen des Zusammenlebens bekräftigen. In der traurigen Realität wird Strafrecht statt dessen für alle möglichen Abweichungen und allzu oft nur im Interesse einer strittigen „Moral“ instrumentalisiert. Die Strafjustiz reagiert hart auf Abweichungen, die einem „Feindbild“ entsprechen. Die Täter, die wegen fremdenfeindlicher Taten vor Gericht stehen, passen weder ins Bild des erkennbar politisch beeinflußten Nazis, noch gehören sie zur typischen Unterschichts-Klientel der Strafjustiz. Die Mißachtung der „Anderen“ und damit die Gnadenlosigkeit gegenüber den potentiellen Opfern wird eben nicht erst in diffusen Subkulturen gelernt, sondern gehört zur gesellschaftlich akzeptierten Fremdenfeindlichkeit. Nur so ist es zu verstehen, daß die Urteilsbegründung im Hünxe- Verfahren erst den Vorsatzbegriff subjektiviert und dann die Täterpsyche so einfühlsam „normalisiert“. Die innenpolitischen Thesen der CDU verstärken diesen Trend. Sie möchten nämlich nur die Straftäter „unnachgiebig“ verfolgen und „mit der vollen Härte“ des Gesetzes bestrafen, die Häuser in Brand setzen, „um Menschen zu töten“. Aber wenn ein Gericht diese Absicht festgestellt hat, dann bestraft es auch hart. Nicht harte Strafe gegen einzelne Sündenböcke, sondern klare Aussagen zu grundlegenden Normen des Zusammenlebens mit Fremden sind gefragt. Würden Jugendliche einen Brandsatz über den Vorgarten eines Einfamilienhäuschens in ein Schlafzimmer werfen, würde kein Gericht den bedingten Tötungsvorsatz verneinen, weil jeder weiß, wie lebensgefährlich ein solcher Angriff ist. Krasse Ungleichbehandlung ist auch eine Form von Fremdenfeindlichkeit.

Die Autorin ist Professorin am Kriminologischen Institut der Universität Kiel