Stadtmitte
: ...von den Sozialdemokraten mitschleppen lassen

■ Das Wahldebakel von Potsdam ist auch eine Niederlage der Politik der Bürgerbewegung

Mit jeder weiteren Prognose und Hochrechnung brach in den Parteizentralen außerhalb der PDS der Angstschweiß stärker aus. Seitdem herrscht Verstörung vor in Brandenburg. Doch mit der Methode „Haltet den Dieb“ und einer kurzfristig zusammengetrommelten Verhinderungskoalition gegen den Potsdamer PDS-Bürgermeisterkandidaten ist der Brandenburger Niederlage nicht beizukommen.

Durch ihren Heimvorteil sowie die Politik der SPD und der anderen Brandenburger Parteien findet die PDS im Berliner Umland gradezu ideale Bedingungen vor. In Potsdam und anderen Städten hatten zahlreiche Funktionsträger und Eliten der SED ihre Wirkungs- und Erholungsstätten. Der vieldiskutierte Speckgürtel um Berlin ist zu wesentlichen Teilen auch ein roter Gürtel geblieben. Seit 1989 wurden die alten Strukturen in Wirtschaft, Verwaltung, Bildung und anderen öffentlichen Bereichen gerade in Brandenburg konserviert. Eigentümer, Institutionen und Türschilder wechselten, aber ein Großteil der alten Kader saß die Wende geruhsam aus. Mittlerweile ist Brandenburg zum negativen Spitzenreiter in Sachen Vergangenheitsverdrängung avanciert. Ob es Justizpolitik und die Übernahme von Richtern und Staatsanwälten aus der ehemaligen DDR ist, oder ob es um die Probleme des Hochschulwesens und der Situation an den Univerversitäten geht, in Brandenburg wurde mit einer Mischung aus Opportunismus und Verdrängung gearbeitet, die den Forterhalt alter Strukturen und Mentalitäten begünstigte. Zugleich wurde damit ein in vielen Bereichen möglicher Neuanfang blockiert.

Die Konstruktion des Einigungsvertrages und die realen Probleme der Schnell-Vereinigung schufen insgesamt ungeheure und schwer zu verkraftende Probleme, die aber in anderen Bundesländern zumindest angegangen wurden. Die Kündigung untauglicher Lehrer aus Bedarfsgründen in Sachsen wurde von vielen Seiten angegriffen und brachte eine Welle von Prozessen mit sich, zumindest half dieses Vorgehen bei einer teilweisen Erneuerung. Das Gleiche gilt für den Bereich des öffentlichen Dienstes. Brandenburg wehrte sich mit seinem Justizminister Bräutigam als einziges neues Bundesland gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist für bestimmte politische Delikte aus DDR-Zeit. In Brandenburg war es bis heute nicht möglich, einen Landesbeauftragten für den Umgang mit den Stasi-Akten einzurichten, den es in allen anderen neuen Bundesländern gibt.

Mit der Person Stolpes schließlich und seiner Gleichsetzung aller DDR-Biographien unter dem Diktum der erzwungenen Anpassung hatte die PDS alle Möglichkeiten, ein neues Selbstbewußtsein zu gewinnen und die Schuld- und Verantwortungsfrage von sich zu schieben. Den Bürgerbewegungen in Brandenburg gelang es trotz oder wegen ihrer Mitarbeit in der Regierungskoalition nicht, in den genannten neuralgischen Politikfeldern wirksam genug zu intervenieren. Ein Teil von ihnen nahm den Kampf mit der Person Stolpes und seiner Stasi- Verstrickung auf, geriet aber sehr schnell in die Klemme, erneut in die Opposition zu gehen oder sich widerwillig von den Sozialdemokraten hinterherschleppen zu lassen. Das Gewicht der „neuen politischen Kräfte“ wurde in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Frage nach den Kriterien für Kompetenz und politische Verantwortung, nach der Bedeutung der Vergangenheit für die Zukunft kaum noch sichtbar. Ein anderes Problem kommt in Brandenburg hinzu: Das Gewicht der tatsächlichen Veränderung und die neuen sozialen Probleme erzeugten Überforderung und Hilflosigkeit in großen Teilen der Bevölkerung. Alle Fehler der Vereinigungspolitik wurden „dem Westen“ zugeschoben und die eigene DDR-Hinterlassenschaft als Grundlage des Bankrotts kaum noch wahrgenommen. Interessenvertretung konnte in dieser Situation immer zweierlei bedeuten: Es konnte heißen, gegen konkrete Ungerechtigkeiten anzugehen, alle Bemühungen um Selbständigkeit zu unterstützen, aber zugleich niemanden aus seiner Eigenverantwortung zu entlassen. Es konnte aber auch heißen, die Leute bei ihrer Hilflosigkeit abzuholen und sie in der Opferrolle förmlich zu bestätigen. Damit mußte eine Schuldzuweisung an die neuen Verhältnisse verbunden sein. Für diese Art Interessenvertretung steht zum Beispiel Regine Hildebrandt in Brandenburg. Sie hat mit ihrer Betroffenheitspolitik und den Forderungen, Alimentierungsleistungen zu verlängern, der sozialen Demagogie der PDS Tür und Tor geöffnet.

Ob es kurzfristig Wählerstimmen bringt oder nicht, alle demokratischen Kräfte in Brandenburg werden anstelle von faktischen Abwehrschlachten gegen den politischen Vormarsch der PDS in die Auseinandersetzung über politische Verantwortung eintreten müssen. Weil es der SPD nicht gelungen ist, für Potsdam jemand anderen als Gramlich aufzustellen, bei dem ein Zeitgenosse nur sagen konnte, daß er sich schwer zwischen Pest und Cholera entscheiden könne, wird es für Potsdam bei einer Zitterpartie bleiben. Für die Wahlkämpfe des nächsten Jahres wird es darauf ankommen, zwischen akzeptablen kommunalpolitischen Ansätzen der PDS und glaubwürdigen Vertretern und ihrer demagogischen Gesamtpolitik zu unterscheiden. Für eine wirksame Auseinandersetzung um Glaubwürdigkeit und Verantwortung werden aber erneut die Kräfte stehen müssen, die im Herbst 89 die Macht der SED brachen. Diese Kräfte sind nicht nur im Bündnis 90 oder dem Brandenburger Bürgerbündnis zu finden, sie gibt es nach wie vor in den anderen politischen Parteien und auch in der politikresignierten Gesellschaft. Wolfgang Templin

Der Autor ist ehemaliges Mitglied des Bundesvorstands von Bündnis 90/Grüne.