In Rußland triumphierten vor allem die Nichtwähler

■ Wahlbeteiligung teilweise unter 50 Prozent

Moskau (AP/dpa/taz) – Man stelle sich vor, nach über siebzig Jahren düsterster Diktatur gibt es endlich, endlich freie Wahlen – aber weit mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten geht nicht hin. In mehreren Regionen des russischen Fernen Ostens lag die Wahlbeteiligung offenbar nur knapp über den für die Annahme der Verfassung erforderlichen 50 Prozent. In der um Wladiwostok gelegenen bevölkerungsreichsten Region Primorje beteiligten sich nur 48,97 Prozent. In Jakutien hätten 50,48 Prozent und in Schukotka 53,48 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Nach ersten Auszählungen votierten im Fernen Osten gut 60 Prozent für den Verfassungsentwurf Jelzins.

Bis 14 Uhr Ortszeit hatten sich gestern in Sankt Petersburg, der zweitgrößten Stadt Rußlands, ganze 15,9 Prozent der 3,7 Millionen Wahlberechtigten an den Urnen blicken lassen. In den 94.000 Wahllokalen des Vielvölkerstaates hatten bis um 16 Uhr erst gut 40 Prozent der 107 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben.

Drei Monate nach der eigenmächtigen Auflösung des Obersten Sowjet durch Boris Jelzin waren die 450 Sitze der neuen Staatsduma und 107 Mandate im Föderationsrat, der zweiten Parlamentskammer, zu besetzen. Für die Wahl zur Staatsduma, dem gesetzgebenden Abgeordnetenhaus, bewarben sich 1.567 Kandidaten aus 13 Parteien. Das angewandte Wahlrecht ähnelt dem deutschen: Bei der Wahl zur Staatsduma hatte jeder zwei Stimmen – eine für eine Parteienliste, die zweite für einen Kandidaten seines Wahlkreises. Die Hälfte der 450 Sitze wird nach dem Verhältnis der für die Parteien abgegebenen Stimmen vergeben; dabei gilt eine Fünfprozentklausel. Die anderen Mandate erhalten die Direktkandidaten der Wahlkreise mit den meisten abgegebenen Stimmen. Das Ergebnis des Verfassungsreferendums, bei dem sich nur zwei der dreizehn Parteien für Jelzins Entwurf ausgesprochen hatten, ist nur gültig, wenn eine Wahlbeteiligung von mindestens 50 Prozent erreicht wird. Da sich nur zwei der dreizehn Parteien ausdrücklich für die Billigung des Entwurfs ausgesprochen haben – neben Jelzins Partei „Rußlands Wahl“ ist dies die Liberal- Demokratische Partei –, wird das Ergebnis der Volksabstimmung mit besonderer Spannung erwartet.

Boris Jelzin gab um 8.40 Uhr morgens Moskauer Zeit im Wahllokal 56 am Miuskaja-Platz seine Stimme ab. Einer der Führer des Aufstands gegen Jelzin, sein ehemaliger Vizepräsident Alexander Ruzkoi, gab im Lefortowo- Gefängnis seine Stimme ab, wo er seit dem 4. Oktober einsitzt. Der frühere Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow wollte aus Protest gegen die von ihm als illegal bezeichnete Gefangenschaft nicht an der Wahl teilnehmen.