Berlin – Belgrad – Zagreb

Hans Magnus Enzensberger zum jugoslawischen Bürgerkrieg  ■ Interview: Antje Vollmer

taz: Die deutschen Intellektuellen streiten sich zu Hause über den jugoslawischen Bürgerkrieg. Aber vielleicht sollten sie auch mal hinfahren. Sie haben das getan. Warum?

Hans Magnus Enzensberger: Die Vorstellung, daß man sich auf die Medien verlassen könnte, ist bekanntlich falsch. Der Augenschein schafft ein Verhältnis zur Realität, das durch nichts ersetzbar ist. Man kann das auch blanke Neugier nennen. Zum andern hatte ich ein paar Kontakte zu Oppositionellen in Serbien und in Kroatien. Diese Leute leisten eine enorme, von der Außenwelt kaum beachtete Arbeit. Je besser ich sie kennenlernte, desto mehr wuchs mein Respekt vor ihnen. Man kann dort den Ernstfall für Intellektuelle studieren, einen Fall, den die Bundesrepublik bisher nicht erlebt hat: Wie verteidigt man unter extremem Druck die Vernunft?

Sie waren in Belgrad und in Zagreb, aber nicht an der Front des Krieges.

An Kriegsberichterstattern, die die gefährliche Situation aufsuchen, fehlt es nicht. Was die Front zu bieten hat, habe ich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt. Es ist immer dasselbe: der dauernde Wechsel zwischen Lebensgefahr und Langeweile. Wenn man wissen will, wie der Krieg produziert wird und wo seine gesellschaftlichen Wurzeln und Folgen liegen, ist die Etappe ergiebiger. Dort spielt auch die Intelligenz ihre zweideutige Rolle, und man sieht, welchen Grad der Wahn, die Kriminalität und die Erschöpfung erreicht haben.

Sie finden, daß man sich in Deutschland zuwenig um diese Vorgänge kümmert?

Was die humanitäre Hilfe angeht, so wird hierzulande sicherlich Beachtliches geleistet. Was aber die intellektuelle Arbeit betrifft, gibt es bei uns ein riesiges Defizit. Die Realität verschwindet, wie üblich, im Lärm der Grundsatzdiskussionen. Der eine sagt: Ich bin Pazifist. Der andere ruft: Da muß endlich militärisch interveniert werden. Die Bundeswehr muß etwas tun, das Auswärtige Amt, die EG, die Nato. Dabei reden immerzu Deutsche mit Deutschen über deutsche Probleme, statt sich an die politisch Denkenden dort zu halten, die weiß Gott mehr davon verstehen. Damit meine ich in erster Linie eine kleine, aber entschiedene Minorität.

Wen zählen Sie in Belgrad dazu?

Meine Gesprächspartner kamen vor allem aus der Intelligenzija: Ärzte, Professoren, Verleger, Juristen, Schriftsteller und Publizisten, die sich um den „Belgrader Kreis“ gruppiert haben. Jeden Samstag treffen sich bis zu zweihundert dieser Leute. Ihre Veranstaltungen sind öffentlich.

Sie verfügen außerdem über eigene Publikationen, sogar über einen kleinen Sender, eine Tageszeitung und ein Wochenmagazin.

Also in erster Linie eine Opposition an der Medienfront?

Teile des kulturellen Apparats sind ja noch vorhanden. Das Regime ist ja keine klassische, sondern eine sozusagen postmoderne Diktatur. Wer sich offen dagegen wendet, wird nicht erschossen oder gefoltert; er darf sich äußern, solange er die Machthaber nicht direkt bedroht. Natürlich wird er ökonomisch unter Druck gesetzt, er riskiert seine Professur oder seine Karriere.

Welche Positionen vertritt diese Opposition? Sind das Pazifisten? Halten sie die Idee des alten multikulturellen Jugoslawien hoch?

Pazifismus in unserm Sinn fand ich nicht; überhaupt geht es dieser Opposition nicht darum, Weltanschauungen hochzuhalten. Sie versucht einfach, die Logik des Bürgerkriegs mit ihren Mitteln zu sabotieren. Damit wendet sie sich in erster Linie gegen ihre eigenen Kollegen; denn in dieser Region haben sich viele einflußreiche Intellektuelle als Haßprediger, Kriegshetzer und Demagogen hervorgetan. Nur Intellektuelle können diesen Wust von Geschichtslügen und Wahnvorstellungen demontieren. Die erste Aufgabe dieser Opposition besteht also darin, die kulturelle Bombe zu entschärfen. Das gleiche Problem stellt sich natürlich auch in Zagreb. Dort ist es vor allem eine Gruppierung um die Zeitschrift Erasmus, die diese Arbeit leistet.

Was das alte Jugoslawien betrifft, so spürt man hier und da eine gewisse Nostalgie, doch gibt sich niemand der Illusion hin, es ließe sich wiederherstellen. Auch sehen diese Intellektuellen ganz nüchtern, daß Tito mit dem Machtmonopol der Partei jede politische Selbsttätigkeit der Gesellschaft im Keim erstickt und damit die Chance für ein demokratisches Jugoslawien von Anfang an zerstört hat.

Haben Sie in Belgrad Überlegungen gefunden, wie man einen Aufstand gegen das Regime vorbereiten, die „Massen“ auf die Straße bringen kann? Oder versucht die Opposition, einen Machtwechsel im Parlament herbeizuführen?

Davon kann bisher keine Rede sein. Die Kräfteverhältnisse sehen ganz anders aus. Das Mehrparteiensystem ist ebenso Fassade wie die Meinungsfreiheit. Die Parteien, die gegen Milošević antreten, sind völig zerstritten und demoralisiert. Seine gefährlichsten Gegner stehen rechts von ihm. Milošević ist nämlich kein überzeugter Faschist, ebensowenig wie er je am Kommunismus oder an der serbischen Nation interessiert war; er ist einfach ein Nihilist der Macht. Das Land regiert er mit Hilfe der Reste des alten Apparats, die sich mit Berufsverbrechern und Gangstern amalgamiert haben. Ein schon vor dem Krieg gesuchter Mörder, er heißt Arkan, sitzt als Abgeordneter im Parlament. Er hat im Zentrum von Belgrad eine große postmoderne Einkaufspassage eröffnet und baut sich soeben im Regierungsviertel einen Palast aus Marmor. Unter solchen Bedingungen kann von einem halbwegs normalen politischen Prozeß keine Rede sein.

Es gibt also keine Chance, dem Regime ein Ende zu machen?

Der chauvinistische Rausch ist verflogen, die Leute sind unendlich müde und ausschließlich mit ihrem Überleben beschäftigt. Die Hyperinflation ist ein Symptom des ökonomischen Untergangs. Alte Menschen begehen Selbstmord aus Angst vor Hunger und Kälte.

Ist das eine Folge des Embargos?

Das behauptet Milošević. Es ist schon deshalb eine Lüge, weil das Embargo gar nicht funktioniert. Es gibt keine Milch, aber alle Luxusgüter sind vorhanden. Der Import – von Schmuggel kann man nicht mehr sprechen – wird von den Gangstern kontrolliert. Am Ende des Monats kann sich ein Rentner von seinem Einkommen gerade noch einen Liter Benzin kaufen. Im Restaurant zahlt man zwei Monatsrenten für ein Abendessen. Die Industrieproduktion ist auf ein Drittel gesunken. Das Land ist am Ende, es hat sich zu Tode gesiegt. Im übrigen droht Serbien ein Bürgerkrieg im Innern. Die Geister, die er rief, wird Milošević nicht mehr los. Er kann die bosnischen Warlords, seine eigenen Stoßtrupps, nicht mehr kontrollieren: ein paar hunderttausend schießwütige, schwerbewaffnete Typen, die jederzeit auch über Belgrad herfallen können. Für diesen Fall hat er bereits eine eigene Eingreiftruppe von fünfzigtausend Mann aufgestellt.

Und wie sieht die Lage in Zagreb aus?

Kroatien war immer reicher als Serbien. Das merkt man auch der Hauptstadt an; dort hält die Fassade der Normalität noch stand. Die Leute sind weniger erschöpft, aber das bedeutet auch, daß der nationalistische Wahn sich hartnäckiger in den Köpfen hält. Das hängt allerdings auch damit zusammen, daß die Kroaten sich nicht zu Unrecht als die Angegriffenen fühlen. Im übrigen ist Tudjman dümmer als Milosěvić; das sieht man schon daran, daß er seinen Flirt mit den Erben der Ustascha nicht aufgeben will, der das Land international isoliert. Doch auch in Kroatien bröckelt die Zustimmung allmählich ab, besonders unter der Intelligenz. Selbst die Opportunisten rücken von Tudjman ab.

Gibt es Gemeinsamkeiten unter den Oppositionellen in Zagreb und Belgrad?

Durchaus. Sogar konspirative Kontakte. Man nimmt sich die informellen Gespräche zwischen Palästinensern und Israelis zum Vorbild. Im übrigen kehrt man vor der eigenen Haustür. Der Belgrader Kreis hat ein Buch veröffentlicht, sogar in einer englischen Version: „Jugoslawien: Kollaps, Krieg, Verbrechen“. Eine Art Tribunal mit genauen Angaben über die Menschenrechtsverletzungen, auch und gerade auf serbischer Seite. Diese Arbeit wurde unterstützt von der schwedischen und der schweizerischen Regierung, vom Internationalen Roten Kreuz, von Brüssel, von den Italienern – nur deutsche Organisationen sind nicht verzeichnet.

Wie denkt die Opposition über Interventionen von seiten der UNO, der USA, der Europäer?

Sie wünscht sich mehr Druck auf die Kriegstreiber. Aber ich habe wenige gefunden, die auf ein militärisches Eingreifen hoffen. Die Realisten wissen, daß ein entscheidender Einsatz Bodentruppen von bis zu einer Million erfordern würde. Natürlich gibt es vor allem in Bosnien, aber auch in Kroatien, immer noch viele, die solche Erwartungen hegen. Die Mehrheit in der ganzen Region ist nach wie vor überzeugt davon, daß ihre jeweilige Seite ohne Schuld ist. Wir sind immer nur die Opfer der Geschichte gewesen, heißt es, nie die Täter; viele Serben halten ihr Land sogar für den „Gekreuzigten Christus der Völker“. Diese Mehrheit macht die Außenwelt für alles haftbar, hängt Verschwörungstheorien an und fordert zugleich ein Eingreifen Dritter zu ihren eigenen Gunsten. Diese Erwartungen müssen natürlich zu immer neuen Enttäuschungen, zu Erbitterung und Haß führen. Es fällt solchen Menschen schwer, zu begreifen, daß sie nicht das Zentrum des Interesses der ganzen Welt sind; daß der jugoslawische Krieg einer von vielen ist. Je eher die Serben und Kroaten mit dieser unerfreulichen Tatsache zu rechnen lernen, desto besser für sie. Die Menschheit als Ganzes ist keine Hilfsorganisation. Das ist moralisch fatal, aber es ist ein politisches Faktum.

Sie glauben also nicht, daß der Krieg von außen zu beenden ist?

Bürgerkriege enden in der Regel an Erschöpfung – daran, daß sie die ökonomische Lebensgrundlage der Menschen vollständig ruinieren. Früher oder später haben die Leute kein Wasser mehr und nichts mehr zu heizen, und selbst die Plünderer und die Kriegsgewinnler finden keine Beute mehr. Die Ökonomie hört nicht auf die Propaganda der Politiker, sie präsentiert den Kämpfenden eine furchtbare Rechnung.

Sind die amerikanischen und europäischen Drohungen wirkungslos? Wäre es nicht sinnvoll, wenigstens jetzt zu sagen: Hände weg vom Kosovo?

Die Drohungen der EG und der USA haben sich als leer erwiesen, und damit haben sie die Kriegstreiber eher ermutigt. Ich bezweifle auch, daß Milošević sich einen weiteren Krieg im Kosovo leisten könnte. Die Bevölkerung ist nicht mehr mobilisierbar. Das Regime hat genug damit zu tun, seine eigene Macht zu verteidigen, notfalls gegen die eigenen Landsleute.

Eigentlich wäre es Aufgabe der KSZE, den Krieg auf dem Balkan einzudämmen.

Ach, die KSZE, das ist nur noch eine Abkürzung.

Copyright: Hans Magnus Enzensberger und Antje Vollmer