Alles happy auf dem Bahnsteig Von Olaf Clees

Wer zu spät kommt, den bestraft jetzt nicht mehr das Leben. Wer jedenfalls in meiner Stadt die U-Bahn verpaßt hat, dem versüßt neuerdings Musik die Wartezeit. Ehe noch der Zorn ob der im Dunkel entschwindenden Rücklichter so richtig hochkommen kann, hat ihn schon der Schmeichelsound aus den unsichtbaren Deckenboxen weich- und weggespült. Verweile doch, du eiliger Gast, säuselt er.

Die Einführung der Nonstop- Berieselung erfolgte etwa zeitgleich mit einer empfindlichen Ausdünnung des Fahrplans. Verschlechterte Taktzeiten, dafür aber flotter Vier-Viertel-Takt. Fehlanschlüsse en masse, dafür prima Bläsereinsätze. Rotstift, dafür Streichkonzert.

Das Befriedungskonzept scheint voll aufgegangen zu sein. Alles lustig und vergnügt auf den Bahnsteigen. Zumindest wirken die Leute kein bißchen frustrierter als zuvor schon. Auch nicht die geringste Entrüstung in den lokalen Leserbriefspalten. Sogar das wertkonservative Opernpublikum scheint zufrieden, wenn es abends nach vollbrachtem Pucchini vom Plastiksound umfangen wird.

Ich weiß nicht, von welchem Klangtapeten-Großhändler das kommunale Verkehrsunternehmen seine Ware bezieht. Sollte sie zum Beispiel von der Firma Wete kommen, dann haben wir es bestimmt mit deren Angebotskategorie H zu tun:

„Flotte, populäre Hintergrundmusik – freundliche Grundstimmung, etwas Rhythmus, lockere, nicht zu stark bearbeitete Titelfolgen, hohe Frequenzen abgeschwächt, abwechslungsreich; Musikprogramme zum zeitweiligen Mithören; bekannte Titel eingestreut. Abspielung: knapp über Grundgeräuschpegel.“ Auf die letzere Regel pfeift man allerdings. Im Laufe der Vorweihnachtszeit muß jemand (gibt es da eigentlich einen Musikwart?) den Regler klammheimlich peu à peu aufgedreht haben. In den Anfängen der wohltemperierten Bahnreform trauten sich die Klänge noch kaum über die Wahrnehmungsschwelle. Jetzt sind sie im Begriff, jeden einfahrenden Zug zu übertönen.

Erst tat ich mich persönlich schwer mit dem Zwangsbeglückungsprogramm. Besonders nach dem Besuch von Konzerten mit zeitgenössischer E-Musik (zugegeben: eine etwas abseitige Gewohnheit) fühlte ich mich irgendwie unverstanden, wartend im Versuchstunnel bei James-Lastiger Beschallung. Inzwischen jedoch bin ich schon viel positiver geworden. Neulich ertappte ich meinen rechten Fuß, wie er unwillkürlich im Takt mitwippte. Tage später fiel mir plötzlich auf, daß ich schon minutenlang Musik gehört hatte, ohne sie zu hören. Und wie verstört war ich erst, als sie einmal wirklich aussetzte. Stimmten überhaupt noch Puls und Atem?

Immer häufiger freue ich mich jetzt auch über die Wiederbegegnung mit einem längst bekannten Titel. Etwa diesem frei flottierenden Saxophonstück mit der „Du darfst“-Erotik. Das Repertoire ist nämlich nicht allzu groß. Neulich brach morgens Marmor, Stein und Eisen, und abends war es dann schon wieder soweit.

Der junge Typ da, der wie ich schon eine Viertelstunde auf die Bahn wartet, ahnt von all den Segnungen nichts. Er hat hartnäckig seinen Walkman übergestülpt. Ganz schön undankbar, die Jugend von heute.