Freie Fahrt für freien Handel

■ Ungebrochener Autowahn in Hamburg / Auch das „Nadelöhr“ Stresemannstraße soll beseitigt werden   Von Marco Carini

27. August 1991, 16 Uhr: Die neunjährige Nicola wird auf einem Fußgängerüberweg auf der Stresemannstraße in Hamburg von einem bei Rot über die Kreuzung bretternden LKW getötet. Der tragische Tod des Mädchens löst eine Protestwelle gegen den Autowahn aus, wie es sie vorher in deutschen Landen nicht gegeben hat. Wochenlang blockieren die Anwohner täglich ab 16 Uhr die vierspurige Verkehrsader, die eine zentrale Querverbindung zwischen den Hamburg umspannenden Autobahnen A1 nach Lübeck und A7 nach Flensburg darstellt.

Kinder üben sich im Barrikadenbau, bislang „brave“ BürgerInnen gehen zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße und bleiben auch dort, als die polizeilichen Räumtrupps anrücken. Kein Fernsehsender, keine Zeitung, keine Illustrierte, die nicht über die „giftigste Straße Europas“, die „Hamburger Todesschneise“ in anklagenden Reportagen berichtet. Am 10. September 1991 geben die Hamburger Behörden nach: Die Stresemannstraße wird als erste Hamburger Bundesstraße zur Tempo30-Zone erklärt, zwei Busspuren treten an die Stelle der äußeren Fahrbahnen.

Hamburg, Weihnachten 1993: Noch immer ist die Stresemannstraße verengt, der Verkehr und der mit ihm verbundene Schadstoffausstoß haben sich halbiert. Doch Bausenator Eugen Wagner, in der Hansestadt für den fließenden Verkehr zuständig, hat längst durchblicken lassen, daß er auf Dauer nicht bereit ist, „das Nadelöhr auf dieser Hauptverkehrsstraße“ hinzunehmen.

Der Autoverkehr in der Hansestadt nimmt ungebrochen zu und die rot-grünen Koalitionsverhandlungen sind gescheitert: Auch daran, das die Sozialdemokraten bei ihren neuen Straßenprojekten, die Hamburg einen Platz an der Sonne im verkehrsüberfluteten europäischen Binnenmarkt sichern sollen, keine Abstriche machen wollten. Eine vierte Autoröhre unter der Elbe, die „Hafenquerspange“ als neue Verbindung zwischen den Autobahnen A1 und A7 und die bessere Straßenanbindung des Fuhlsbüttler Flughafens sind die wichtigsten Projekte, die den Wirtschaftsstandort Hamburg für den straßengebundenen Güterverkehr besser erschließen sollen. Freie Fahrt für den freien Handel.

Während die Planung der neuen Verkehrsadern auf vollen Touren läuft, ist die innerstädtische Verkehrsberuhigung in eine Sackgasse geraten. Dabei gibt es – auf dem Papier – die allerschönsten Konzepte. So entwickelte die Hamburger Baubehörde einen Plan für eine nahezu autofreie Innenstadt.

Verkehrsberuhigung gilt als nicht finanzierbar

Nur noch der Lieferverkehr, Taxen und Busse sollten zwischen der Shopping-Meile Mönckebergstraße und den luxeriösen Einkaufspassagen der City, zwischen dem Hamburger Rathaus und dem altehrwürdigen Gänsemarkt verkehren. „So eine weitreichende Verkehrsberuhigung ist noch in keiner deutschen Großstadt durchgesetzt worden“, klopft sich die Behörde anerkennend auf die Schulter.

Nur: Auch in Hamburg wird das Konzept für lange Zeit ein Traum bleiben. Eine Verkehrsberuhigung großen Stils, das zeigten die Haushaltsberatungen des inzwischen abgewählten SPD-Senats für 1994, gilt zur Zeit als nicht finanzierbar – die Baubehörde legte das Konzept unter Ex-Finanzsenator Curillas gestrengem Blick freiwillig auf Eis. Und die Statt Partei, der neue Junior-Regierungspartner der hanseatischen Sozialdemokraten will gar noch rigider sparen als die SPD. So wird von dem „Modellprojekt für Deutschland“ nur der bereits begonnene Umbau der Mönckebergstraße zuende geführt werden.

Immerhin vereinbarte das SPD/Statt Partei-Regierungsbündnis in seinem Kooperationsvertrag die Errichtung einer „autofreien Siedlung“ in Hamburg „anzustreben“. Die Stadtentwicklungsbehörde hat da bereits ein Areal im Auge: Das am Rande der Hansestadt gelegene Neubaugebiet „Allermöhe III“. Da das auf der grünen Wiese geplante Siedlungs-Projekt bei Hamburgs Umweltverbänden bislang auf heftige Kritik stößt, hoffen die staatlichen Stadtentwickler den Widerstand durch das Verkehrs-Bonbon brechen zu können.

Die Umweltschützer aber murren schon deshalb, weil sich die Erstellung der 3.000 geplanten Wohneinheiten in Allermöhe noch bis zur Jahrhundertwende hinziehen wird, Hamburgs erste abgasfreie Siedlung damit auf die lange Bank geschoben wird. Und wer genau hinhört vernimmt, daß die zuständige Stadtentwicklungsbehörde stets von einer „autoarmen“, nicht aber von einer „autofreien“ Siedlung spricht.

Freie Fahrt für freie Bürger; daran hat sich auch seit Nicolas Tod in Hamburg nichts geändert.