Nun heißt es putzen und trösten

Im südniederländischen Arcen stand das Wasser hoch in den Wohnzimmern / Überforderter Bürgermeister wies Hilfe von außen ab – zum Ärger der Bevölkerung / Jetzt mußte der Mann gehen  ■ Aus Venlo Henk Raijer

„Nur Einheimische dürfen in den Ort rein“, weist der durchnäßte Gefreite jeden ab, der vom ehemaligen Grenzübergang kommend nach Arcen möchte. „Und auch das bis auf weiteres nur zu Fuß.“ Seit Dienstag abend haben die Behörden der vom Maas- Hochwasser schwer betroffenen südniederländischen 3.000-Seelen- Gemeinde nahe Venlo alle Zufahrtswege weiträumig abgesperrt. Militärlastwagen und Traktoren parken quer auf dem Fahrdamm, Soldaten schieben auch nachts und auf Waldwegen Wache, garantieren, daß wirklich nur diejenigen ins Dorf gelangen, die am Mittwoch vor Weihnachten ihr Heim überstürzt verlassen mußten.

Totales Einreiseverbot für Nichtansässige also. Da hilft weder Freundlichkeit noch Presseausweis, da nutzt es aber, mit dem Mann verwandt zu sein, der dem ortsfremden Soldaten zur Seite steht, um die Rückkehr der über 2.000 Evakuierten zu überwachen und Hilfsbereite von Katastrophentouristen zu unterscheiden.

Nur wenige Fenster sind erleuchtet an diesem ersten Abend seit der Entwarnung, viele Häuser haben weder Strom noch Heizung. Das Wasser hat sich aus den Straßen zurückgezogen, geblieben sind dieselgetränkter Schlamm und tonnenweise Gestrüpp, Hausrat und Tüten. Es regnet schon wieder, aus einem Strom-Verteilerkasten steigt dunkler Rauch auf. An den Stellen, wo die Fluten die Deiche überwanden, stehen Einsatzfahrzeuge der freiwilligen Feuerwehr – ausnahmslos aus der nahen Bundesrepublik.

Etwa hundert Freiwillige aus Viersen, Geldern und Wesel sind seit dem Wochenende rund um die Uhr im Einsatz, pumpen Wasser zurück über den ramponierten Deich, sprechen den Leuten Mut zu. Sie ackern ohne Pause in ihren grellroten Anzügen und hohen Gummistiefeln, wärmen sich immer nur kurz auf, rauchen. Keiner sonst ist auf der Straße bei dem Hundewetter – bis auf einen späten Jogger in Turnschuhen, der ohne Gruß geschickt um die Sandsäcke kurvt.

Das Wasser ist fort, geblieben sind verwüstete Häuser und gemischte Gefühle. „Wir wären ja viel früher gekommen“, sagt der schnurbärtige Einsatzleiter, dem die tagelange Anstrengung ins Gesicht geschrieben steht. „Schon vor der Evakuierung. Schließlich wußten wir, daß die in Venlo jedes Gerät und jeden Mann selber brauchen würden.“

Warum sich ihr spontaner, grenzüberschreitender Hilfseinsatz um Tage verzögerte, weiß in Arcen mittlerweile jedes Kind: Engelbert Mooren, Bürgermeister von königlichen Gnaden – das Amt wird auf Lebenszeit verliehen – hat abgelehnt. Der örtliche Katastrophenschutz hat das Ausmaß des drohenden Hochwassers aufs sträflichste unterschätzt, nach Beteuerungen vieler Betroffener die nahende Gefahr sogar bis zuletzt – Mittwoch vor Weihnachten – heruntergepielt, „um die Bevölkerung nicht unnötigerweise in Panik zu versetzen“ (Mooren).

Als dann in den frühen Abendstunden innerhalb einer Stunde die Bewohner ganzer Straßenzüge bis zu 1.50 Meter Wasser im Wohnzimmer hatten, und die nach oben Geflüchteten nur noch mit Hochladern und Booten befreit werden konnten, muß es dem Bürgermeister gedämmert haben, daß die Handvoll niederländischer Soldaten das Schlimmste nicht würde verhindern können.

Obwohl bereits am Tag vor Heiligabend ein kleines Kontingent der Freiwilligen Feuerwehr aus Deutschland beim Bürgermeisteramt vorsprach und anbot, den niederländischen Soldaten hundert Paar hüfthohe Stiefeln gegen das eiskalte Wasser zur Verfügung zu stellen, lehnte Mooren dankend ab; er und sein Krisenstab hätten nach Anfangsschwierigkeiten alles im Griff und würden als nächstes mit der „umfassenden Versorgung“ der Evakuierten beginnen. Doch die beschränkte sich zunächst auf eine Tonband-Durchsage. Der Bürgervater entblödete sich nicht, die Bevölkerung höchstselbst per Lautsprecher aufzufordern, ruhig zu bleiben und auf die Erfahrung der Soldaten zu vertrauen.

Die „Koordination“ durch die lokalen Funktionsträger war nicht mal am ersten Weihnachstag, dem dritten Tag der Flut, richtig in Gang gekommen. Zwei Tage wurden damit vertan, einen pensionierten Stadtschreiber aufzutreiben, der angeblich wisse, wo der Katastrohenplan von 1984, dem Jahr der letzten Überschwemmung, im Rathaus zu suchen sei.

Versorgt wurde die Bevölkerung am Heiligabend ausschließlich auf Initiative hilfsbereiter Nachbarn, die „trocken“ geblieben waren. Im Krisenzentrum in der örtlichen Volksschule nahmen die Bewohner des Nachbarorts die Gestrandeten in Empfang. Eine spontan gegründete „Eingreiftruppe“ aus jungen Leuten karrte heiße Erbsensuppe zu den Notunterkünften, ein Bäcker aus dem deutschen Nachbarort Walbeck brachte körbeweise gratis Brot- und Backwaren – wie schon sein Vater vor ihm, damals, 1926, als die Maas noch 20 Zentimeter höher in den Straßen gestanden hatte.

Viele der am schlimmsten Betroffenen haben ihrem Bürgermeister geglaubt und nicht den Fernsehnachrichten. Sie haben bis zuletzt gewartet, nichts in Sicherheit gebracht. Bei ihnen schwimmen an diesem Mittwoch morgen die Klamotten und die Bücher aus der Tür hinaus, Stereoanlagen und Couchgarnituren sind mit einer tiefbraunen und nach Heizöl stinkenden Schicht überzogen. Die Mitglieder der „Putzkolonne“, wie sich die Truppe jetzt nennt, ziehen von Haus zu Haus, spritzen Wände und Möbel ab, schalten Heizung und Strom für die Alten an, räumen verdreckte Kommoden leer, finden nur Nasses, Aufgeweichtes, immer öfter auch allzu Privates – und es geniert sie zusehens.

Es regnet wieder, die Dieselmotoren, mit denen die Wasserpumpen angetrieben werden, dröhnen ohne Unterlaß. Die ersten Autos fahren wieder durch die Maasstraße. Die Freiwillige Feuerwehr rollt ihre Schläuche zusammen, spritzt hie und da noch einen Vorgarten sauber. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich da die Nachricht, der Gouverneur der Provinz Limburg habe Bürgermeister Mooren in den einstweiligen Ruhestand versetzt – wegen Versagens an der Wasserfront. Die Arcener freuen sich über den Abgang des ohnehin ungeliebten Stadtvaters, der seit Stunden abgetaucht ist.

Über die möglichen Kosten des Einsatzes der hilfsbereiten Deutschen verliert kaum jemand ein Wort – das verbuche man im Ort als eine Art später Wiedergutmachung, witzelt zynisch ein alter Mann, der sich anschließend hinter einigen Schwänen und Enten hermacht, die in seinem Garten zwischen Tomaten- und Rosensträuchern gemütlich ihre Kreise ziehen.