Bersarin und die Harley-Davidson

Kulturkampf im Straßenbild: Der Bersarinplatz in Friedrichshain soll getilgt werden / Der sowjetische Stadtkommandant sorgte 1945 in Berlin für ein Ende mit vergleichsweise wenig Schrecken  ■ Von Götz Aly

Am 27. April 1945 eroberte die 5. Sowjetische Armee den Alexanderplatz, stieß in Richtung Reichstag vor und nahm die Reichskanzlei unter direkten Beschuß. Einen Tag später wurde der Kommandeur dieser Armee, Generaloberst N. E. Bersarin, zum Stadtkommandanten von ganz Berlin ernannt (die Viermächteverwaltung begann erst im Juli). Noch harrte Hitler im Führerbunker aus, erteilte Führerbefehle und las die neueste Ausgabe seines Durchhalteblättchens Panzerbär.

„Für mich“, so notierte der in Heiligensee überlebende jüdische Philosoph Rudolf Schottlaender, „war eben Befreiung, was ringsum nur Niederlage und Schrecken bedeutete.“ Nur zu gut wußten die Berliner und Berlinerinnen, was ihnen bevorstand, würden die sowjetischen Soldaten auch nur annähernd das tun, was sie selbst in den Jahren zuvor „im Osten“ getan oder für richtig gehalten hatten. Was kam, war traumatisch genug, aber die Zahl der Ziviltoten hielt sich in Grenzen, die Tage des Chaos, der Jagd nach Frauen, des Marodierens wurden nicht endlos. Es gelang der sowjetischen Armeeführung bald, die eigenen Soldaten zu zügeln. Wichtiger noch – sie stellte sich diesem für sie vorhersehbaren Problem schon in den ersten Stunden der Besatzung. Die Befehle Bersarins dazu sprechen eine klare Sprache.

Am 2. Mai, die Kämpfe waren noch nicht beendet, erließ der sowjetische Stadtkommandant seinen befehl Nr. 01, der, ersparen wir uns das Zitieren erster deutscher Befehle in Minsk oder Charkow, im Kern so lautete: „Ausnutzung aller örtlichen sanitären Mittel zur Wiederherstellung des zivilen Gesundheitswesens (...) Schutz aller Betriebe der Lebensmittelindustrie und auch der Lebensmittelmagazine (...) Versorgung der kranken Kinder und der Neugeborenen mit Milch (...) Sicherung der sanitär-epidemischen Wohlfahrt.“

Am 19. Mai führte Bersarin den ersten Nachkriegsmagistrat der Stadt in das Amt ein: „Wir sind hierhergekommen“, sagte er, „um ein für allemal die Hitler-Bande zu vernichten (...) Alle Zerstörungen, die Sie in Deutschland haben, sind Kleinigkeiten, gemessen an den Zerstörungen, die wir erfahren haben.“ Er verlangte die Wiederherstellung der Wohnungen – „denken Sie an den Winter“ – die Wiederherstellung der Infrastruktur – „schon um das Heranbringen der Lebensmittel zu sichern“.

Auf die durchaus rhetorische Frage, „ob alle früheren Faschisten ausgeschaltet werden sollten“, antwortete Bersarin: „Wer in der Praxis des Faschismus fortfährt und sich für ihn betätigt, muß entfernt werden.“

Am 3. Juni war Bersarin Gast bei der Feierstunde zu Ehren der Opfer des Faschismus im Funkhaus an der Masurenallee. Am 6. Juni verhandelte er mit Gustav Gründgens und Paul Wegener über die schnelle Wiedereröffnung des Deutschen Theaters.

Das Theater öffnete am 9. September mit Nathan der Weise.

Bersarin war nicht mehr dabei. Seit zwölf Wochen schon ruhte der 41jährige in der russischen Erde des Moskauer Nowodewitschje- Friedhofs. Denn am 16. Juni war er um 5 Uhr früh mit dem Motorrad in einen sowjetischen Lastwagenkonvoi gerast und auf der Stelle tot.

Die Legende sagt, Bersarin sei „in Ausübung seines Dienstes“ auf dem Weg zu einem Lazarettbesuch tragisch ums Leben gekommen, und – noch tragischer – der Militärkonvoi habe „Milch und Mehl für die Berliner“ transportiert. Der Tod des Generals war, so gesehen, eine Folger zweier sich tragisch an der Ecke Treskowallee/Alt-Friedrichsfelde kreuzenden humanitärer Hochgeschwindigkeitsaktionen. Merkwürdig die Uhrzeit. Merkwürdig auch: Der tote Generaloberst trug keine Uniform, sondern einen Monteursanzug, und später gab es keine Bersarin-Gedächtnisfeier, sondern – und zwar alljährlich – das Bersarin-Gedächtnis-Motorradrennen in Karlshorst.

Was immer die russischen LKWs bezweckten – Bersarin fuhr allmorgendlich, vor Antritt seines Dienstes, inkognito durch Berlin. Nicht mit irgendeinem Motorrad, er dröhnte – das war den Eingeweihten zwischen Karlshorst und Friedrichshain bekannt – auf einer Harley-Davidson durch die menschen- und autofreie Stadt. Nikolai Erastowitsch Bersarin starb als eine Art Sowjet-Rocker – die Locke im Wind. Warum der in Leningrad geborene und aufgewachsene Mann täglich die Grenzsituation suchte und mit dem Tod spielte, weiß man nicht. Vielleicht verzweifelte er an seinem Ziel, daß die Völker frei und froh leben – nach diesem Krieg. Nach seinen eigenen Worten hatte er während seines „ganzen Lebens nichts gesehen, was dem ähnlich war, als die deutschen Offiziere und Soldaten wie Bestien gegen die friedliche Bevölkerung“ seines Landes vorgingen. Spekulationen. Sicher ist, um es mit Erich Kuby, dem Autor des berühmten Buches „Die Russen in Berlin“, zu sagen: „Alles, was man über ihn weiß, vermittelt den Eindruck, daß er sich in den wenigen Wochen seiner Berliner Tätigkeit mit seinem Amt zu identifizieren begann, daß ihm die Leistung wichtiger war als die Ideologie.“ Es gibt gute Gründe, den Platz in Friedrichshain, dessen Name seinem Andenken gewidmet ist, nicht umzubenennen. Der Name Bersarin gehört in das Gedächtnis der Stadt.

Leicht gekürzt entnommen dem Buch „Demontage ... revolutionärer oder restaurativer Bildersturm“, Karin Kramer Verlag.

Wird fortgesetzt