„Sarajevo liegt Millionen Jahre entfernt“

■ 250 Jugendliche aus 23 Ländern proben eine Woche lang den Parlamentarismus

Vedrana fühlt sich wie eine Wanderin zwischen zwei Welten. Seit ein paar Tagen erst ist das Mädchen aus Sarajevo in Berlin. Sie nimmt als Mitglied der bosnischen Delegation an der 15. Sitzung des Europäischen Jugendparlaments teil, die gestern im Reichstag eröffnet wurde.

Vedrana kritisierte, mit einem Hauch von Spott. Ihrer Ansicht nach machten „alle“ einen Fehler in ihrer Wahrnehmung vom „Krieg vor der europäischen Haustür“. Da nahm sie auch den Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, nicht aus, der zuvor mahnend über den Krieg gesprochen hatte. „Für die Menschen in Sarajevo ist Berlin keine zwei Stunden entfernt, sondern Millionen Jahre“, lautete Vedranas Antwort ans Jugendparlament.

Ihre Rede war kurz, aber sie traf den Nerv der Jugendlichen. Sie wisse, daß die Greuel von Sarajevo für Außenstehende nicht zu erfassen seien. „Nachdenken über Sarajevo aber ist eine Verpflichtung“, erklärte sie mit stockender Stimme. „Die Menschen in Sarajevo möchten das.“

Außer dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien standen bei den JungparlamentarierInnen Themen wie Rassismus und die Europäische Union (EU) im Mittelpunkt. So sagte der deutsche Präsident des Parlaments, Uli Gerza, die EU sei geeignet, den Rassismus in Europa zu bekämpfen.

Zeit-Chef Sommer skizzierte für die Teens die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Und sprach einen Leitartikel. Ohne den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien minimieren zu wollen, sei er kein „Armageddon, dem man ins Gesicht schaue“. Sommer scheute sich auch nicht, die Untauglichkeit von Geschichtsvergleichen erneut unter Beweis zu stellen. Er erinnerte an die 80 Millionen Toten zwischen 1900 und 1945.

Das Europäische Jugendparlament wird bis Ende dieser Woche auch eine Resolution zum Krieg in Ex-Jugoslawien verabschieden. Die Ausschüse tagen in der Körperbehindertenschule in Lichtenberg und in der Herder-Oberschule.

Nicht immer ging es gestern so ernst zu. Bei der Vorstellung der verschiedenen Delegationen etwa vermißte die Vertreterin Luxemburgs den Karneval in Berlin. Der Schweizer Delegierte führt gleich die ganze Palette seiner Landessprachen vor, inklusive Schwyzerdütsch.

Die rund 250 Delegierten aus 23 Ländern werden sich unter anderem mit umwelt- und sozialpolitischen Themen befassen. Demokratische Legitimation allerdings besitzen sie nicht. Die Mitglieder des Jugendparlaments werden nicht gewählt, sondern werden anhand von Bewerbungen ausgesucht. Allesamt sind sie Schüler der 11. oder 12. Klasse von Gymnasien. Die Arbeit soll dem eines richtigen Parlaments möglichst ähneln. In Ausschüssen sollen bis zum Freitag Resolutionen erarbeitet werden, denen nur eines fehlen wird – die Gesetzeskraft. Am Freitag werden die Resolutionen von der Vollversammlung im Reichstag verabschiedet. Die Türen sind geöffnet. Ralf Knüfer