Götter in Weiß – und viele Nachlässigkeiten

■ Wegen fahrlässiger Tötung sind seit gestern Narkoseärztin und Arzt im Praktikum angeklagt / Inkompetenz und Nachlässigkeit kosteten 19jährige das Leben

Zwei Götter in Weiß, eine Anästhesistin und ein Arzt im Praktikum, stehen seit gestern wegen fahrlässiger Tötung vor dem Amtsgericht Tiergarten. Ihre Fehlbarkeit kostete am 10. Juli 1990 die 19jährige Ikbala K. das Leben.

Kurz nach der problemlos verlaufenen Nasenoperation klagte die Jugoslawin im Aufwachraum über Schmerzen. Der 34jährige Arzt im Praktikum, Eugen Leopold H., spritzte ihr das Schmerzmittel Dolantin – die Injektion aber war eine Überdosis. Durch die bereits verabreichten Mittel vor und während der Narkose potenzierten sich die Nebenwirkungen der fünfzig Milligramm Dolantin. Die Atmung der 19jährigen setzte aus. Jede Hilfe kam zu spät.

Das Amtsgericht Tiergarten hat nun zu klären, ob der Berufsanfänger H. eigenmächtig oder aber mit Zustimmung der 50jährigen Narkoseärztin und Betreiberin der Schöneberger Anästhesie-Praxis, Thein B., handelte.

Gestern schoben sich vor Gericht die Angeklagten gegenseitig die Verantwortung zu. Der Arzt im Praktikum, der gerade mal vier Monate Berufserfahrung hatte, will seine Chefin gefragt haben, ob er Dolantin verabreichen könne. Während im Operationssaal der Praxis bereits die Vorbereitungen für die Folgeoperation liefen, sei er zum Narkosetisch gelaufen und habe gesagt: „Sie hat Schmerzen. Ich gebe ihr Dolantin.“ Nach seiner Darstellung soll seine Chefin ein Zeichen des Einverständnisses gegeben haben: „Sie hat genickt oder Okay gesagt, ich weiß es nicht mehr genau.“ Die 50jährige dagegen will kein Wort gehört haben. Nur „im Unterbewußtsein“ habe sie den Berufsanfänger H. zum Narkosetisch „huschen sehen“. Als H. wieder zurück war, will sie ihn gefragt haben: „Was haben Sie eben gemacht?“ Und schon die Antwort habe sie in Schrecken versetzt. Beide Darstellungen werfen Fragen auf. Da beschreibt sich der Berufsanfänger als „vorsichtigen Typen“. Dolantin hätte er nie ohne Zustimmung gegeben, nichtsdestotrotz hat sich aber eben dieser vorsichtige Berufsanfänger keine Gedanken über die Dosierung gemacht. Und ungewöhnlich war die Vergabe von Dolantin in der Praxis wohl nicht: „Über den Daumen gepeilt wurde es drei- bis viermal in der Woche gegeben.“

Auch die Aussagen seiner Chefin stießen immer wieder auf Gegenfragen. Einerseits will sie immer auf die regelgerechte Injizierung von Medikamenten geachtet haben, ja sogar immer dabeigewesen sein. Andererseits offenbarte sich im Verlauf des Prozesses, daß ihre Praxis mehr schlecht als recht organisiert war. So zumindest sah es der Operateur von Ikbala, der 46jährige Wolfgang P.

Vor Gericht kritisierte er gestern, daß es zuwenig und schlecht qualifiziertes Personal in der Praxis gegeben habe und die Überwachung der Patienten nach der Operation lückenhaft gewesen sei. In der Praxis mußte schon mal die Sprechstundenhilfe nach den Operierten sehen. Warum der Arzt Wolfgang P. seine Patienten trotzdem noch in der Anästhesie-Praxis operierte, wird wohl nur er wissen: „Heute mache ich mir Vorwürfe.“

Um einen Kunstfehler der Götter in Weiß handelt es sich wohl nicht. Wohl eher um eine Anhäufung von Nachlässigkeiten. Ralf Knüfer

Der Prozeß wird fortgesetzt.