Über den Tod hinaus Mannequin

Hervé Guiberts Roman „Das Paradies“  ■ Von Ina Hartwig

Es ist kein Geheimnis: Hervé Guibert, der im Dezember 1991 durch Selbstmord starb, war schwul. „Trotzdem“ hat er, offenbar während er aidskrank war, einen Heterosexuellen-Roman geschrieben. Thema: Mann liebt Frau. Und zwar eine erheblich jüngere Frau. Die schön ist. Die bei einem Unfall stirbt. Im Meer. Der Mann ist Schriftsteller. Und am Ende einsam und dem Wahnsinn nahe, nur das Schreiben rettet ihn.

Das sind, Sie werden es bemerkt haben, die großen Themen: Schreiben, Liebe (zu Frauen), Tod. Neuerdings spielt sich diese Kombination häufig in der Südsee ab, in tropischen Regionen, dort also, wo es stinkig, faulig, undurchschaubar, nebulöser als bei uns, kurz, wo es fremd ist. Das ist keine französische Spezialität. In Bodo Kirchhoffs Roman „Infanta“ (1990) reist ebenfalls ein wohlhabender Mann ins exotische Ausland und verliert die Geliebte an den Tod. Aber anders als bei Kirchhoff, wo der Mann den Beruf des Modells ausübt, ist bei Guibert die Frau Mannequin. Das heißt – gewesen. Jayne nämlich ist klug (so wird behauptet), arbeitet nicht mehr als Mannequin, sondern schreibt eine Doktorarbeit – über Wahnsinn bei Nietzsche, Robert Walser, Strindberg. Womit sie das Ende des Romans – den Wahnsinn des Manns – vorwegnimmt. Tief!

Es beginnt mir auf die Nerven zu gehen, daß Liebe und Leidenschaft in der Literatur fast immer mit dem Tod enden müssen; als sei das Ende des Lebens die einzige Möglichkeit zur Konservierung des Glücks. Guibert stellt das Todesmotiv an den Anfang seines Romans; die Beschreibung von Jaynes Kadaver, aufgeschlitzt von einem Korallenriff, gehört immerhin zu den originellsten Passagen: „...ihr von der Scham bis an die Brust geöffnetes Fleisch, bläulich rosa, wie eine von einem Sadisten über die gesamte Länge des Rumpfes hin aufgerissene Vulva, von einer Konsistenz wie das Fleisch der Thunfische und Goldbrassen, die wir [...] zuvor gemeinsam auf dem Markt von Le Vauclin untersucht hatten“.

Geld ist vorhanden, sowohl Jayne hat übergenug davon als auch der männliche Ich-Erzähler, der sich am Ende des Romans „Hervé Guibert“ nennt. (Proust!) (Musil!) Der Erzähler und Jayne nutzen es für ausgedehnte Fernreisen.

Wohin reisen sie? Nach langem Grübeln läßt sich die wirre Topographie einigermaßen entschlüsseln. Drei Reisen mit Jayne werden – absatzweise ineinander verschaltet, daher der chronologische Wirrwarr – erzählt, eine nach Afrika, eine nach Washington und eine nach Martinique. Die Afrikareise ist die Hölle und endet mit einer schweren Erkrankung des Erzählers (nicht an Aids). Ihr folgt eine Reise nach Washington, wo der Erzähler sich den fiktiven „neuesten“ medizinischen Untersuchungen unterzieht, die jedoch keine Erklärung liefern für die seltsamen Lähmungen der Gliedmaßen und weißen Fleckchen im Hirn, die schon der Zürcher Arzt auf dem Scanner ausgemacht hatte. Guibert kennt sich aus mit dem Gefühl, Personal und Apparaturen ausgeliefert zu sein wie einem Henker: „Die Assistenten lösten einen Mechanismus aus, der mich auf einer Schiene bis in das Herz der Maschine gleiten ließ. Diesmal glaubte ich, ich würde für immer verrückt. In diese Mulde, halb Wiege, halb Sarg, gefesselt, mit nichts vor Augen als nur die Wände des Apparates, an die mein Körper streifte, ohne Luft, ohne Aussicht, begann ich die Klopfgeister zu hören. Tock, tock.“

Die dritte Reise schließlich geht nach Bora Bora – das liegt auf Martinique, wenn ich richtig verstanden habe – und endet mit dem erwähnten Tod der Frau. Bora Bora, hat ein Verwandter von Jayne einmal erzählt, sei das „Paradies“. Dort will sie hin; ein Kindheitstraum. Aber weil sie einst Meisterin im Rückenkraulen war und sich im Wasser unbesiegbar fühlt, tut sie, was kein Einheimischer je tun würde: sie schwimmt zum Korallenriff. Das Paradies wird Todesort. Als die Leiche geborgen ist, verdächtigt die Polizei zuerst den Erzähler. Ihren Namen kennt Interpol nicht – um so unheimlicher, als Jayne immer einen Revolver bei sich trug. Wenn ihr Rätsel auch nicht gelüftet wird, steht nach der Obduktion immerhin fest, daß sie nicht ermordet wurde.

Ihren Unfalltod sollen wir wohl als Folge ihrer Leidenschaftlichkeit deuten. Jayne nämlich ist immer schnell Auto gefahren und liebte das Risiko ebenso beim Sex. Da übrigens hat Hervé Guibert, der Vielschreiber, sich gar nicht mehr unter Kontrolle. Der Sex in diesem Roman ist wirklich peinlich, einesteils Potenzgeprotze, andernteils dümmliche Apologie der Perversion: „Eines Tages bat sie mich, sie mit der Pistole zu wichsen, bevor ich sie vögelte, ich hatte Eile, in sie einzudringen, und dies Spiel ängstigte mich, ich befürchtete, die Kugel könnte von allein losgehen, ich zauderte, doch sie bekniete mich ... dann wurde es eine Gewohnheit, wir sprachen nicht einmal mehr darüber, wir brauchten es sogar, um miteinander zu schlafen, und die Pistole glitt immer leichter in die Möse...“ Schon Genet, den Guibert bestimmt gelesen hat, arbeitet in einem seiner Romane mit der Pistole-Penis- Symbolik. Dort steckt ein Mann einem anderen Mann die Revolveröffnung in den Mund, ihn zwingend, daran zu lutschen.

Währscheinlich sind wir wirklich so primitiv: Weil dieser Roman reichlich kriminalistische und pornographische Elemente enthält (Roland Barthes hätte gesagt: Pornographeme), langweilt die Lektüre nicht. Im Gegenteil, Guiberts „Das Paradies“ ist spannend, wenn auch ganz bestimmt nicht innovativ. Man wird den Eindruck nicht los, alle Motive aus diesem Roman schon zu kennen, ob es sich um die erwähnte sexuelle Symbolik handelt, um die Erotik des Sich-Betrinkens (Marguerite Duras) oder um die Ästhetik des Verfalls unter tropischer Hitze (Hubert Fichte).

Sagte ich schon, daß Jayne Holländerin ist und ganz viele Sprachen spricht? Sie ist: eine Platitüde. Der Schönheit des Makels hängt Hervé Guibert, im Gegensatz etwa zu Benjamin oder Proust, nicht an, statt dessen dem Glanzpapiereffekt von Vogue. Es kommt auf die Distanz an: Wie nah geht ein Auge an die Anatomie heran? Guibert bleibt immer auf Mitteldistanz – und entdeckt nur Glätte und Ebenheit. Seine Körpersprache darf man getrost der Gattung Trivialroman zuordnen. – Auch beim Thema Schreiben, seiner eigenen Obsession, und beim Thema Wahnsinn gelingt es Guibert nicht, Klischees zu vermeiden. Nachdem Jayne („die größte Liebe meines Lebens“) gestorben ist, bleibt der Erzähler auf Martinique. Er schwitzt so vor sich hin und gelangt irgendwann, wir erfahren nicht wie, nach Afrika, an den Ort seiner ersten schweren Erkrankung, die ihn nur noch mit Tabletten leben läßt. Irgendwann beginnt er, um nicht wahnsinnig zu werden, zu schreiben: „Schreiben ist Wahnsinn, es ist zugleich Wahnsinn und Vernunft, es ist die Vernunft des Wahnsinns.“ Solche Aphorismen zieren das letzte Viertel des Romans. Es gibt hier aber nur das Schreiben des Mannes, wie wir es von alters her kennen. In Jaynes Doktorarbeit wird kein Blick geworfen. So kann sie über den Tod hinaus Mannequin bleiben. Und darauf kommt es wohl auch an.

Hervé Guibert: „Das Paradies“. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, 123 S., geb., 32 DM