Abwarten und Bier trinken

■ Bei Christoph Marthaler steht die Zeit still. Ein Porträt des Regisseurs

Auf der Bühne sitzen vier Männer an einem Wirtshaustisch, manchmal trinken sie, manchmal singen und reden sie. Das kann zwei Tage dauern: „Was weiß denn ich, was die Burschen machen, bevor sie wieder einen Satz herausbringen. Und irgendwann schlafen alle, im Publikum werden Decken verteilt, und am Morgen geht es weiter.“ So könnte sie aussehen, die letzte Szene von Christoph Marthalers Theater: eine Meditation. Nichts passiert, die Zeit dehnt sich, und irgendwann weiß man beim Zuschauen nicht mehr, ob man schon träumt oder noch den Trinkern zusieht ... Die Szene stammt zwar nicht von Marthaler, sie steht in Franz Doblers prächtig versponnenem Buch „Bierherz“.

Spätestens seit „Murx den Europäer, murx ihn ...“, Marthalers „patriotischem Abend“ an der Berliner Volksbühne, besitzen seine Inszenierungen Kultstatus. Begonnen hat der Dreiundvierzigjährige spät mit dem Theater. Nach einem abgebrochenen Musikstudium und zwei Jahren an der Lecoq-Schauspielschule in Paris schrieb er Bühnenmusiken und veranstaltete in Zürich absonderliche Happenings zwischen Kunst und höherem Blödsinn – eine Hommage an seinen Lieblingskomponisten Satie beispielsweise. Marthaler und seine Freunde spielten ununterbrochen und wiederholten ein Satie-Stück 26 Stunden lang in einer Apotheke; während der Aktion ging der Apothekenbetrieb weiter. Seine ersten Inszenierungen waren hinterhältige Liederabende; so bescherte er dem Basler Theater vor fünf Jahren mit inbrünstig vorgetragenem Soldatengesang einen handfesten Skandal. Der Staat fühlte sich verschaukelt, dabei hatte Marthaler lediglich das offizielle „Liederbüchlein des Schweizer Soldaten“ geplündert: „Es wäre ein Blödsinn, zynisch über die Schweiz herzufallen; alles muß exakt so einstudiert werden, wie es ist, das wirkt um so grauslicher.“

Die Theaterabende des Schweizers sind schräge Grübeleien. Vier Inszenierungen sind derzeit von ihm zu sehen: das selbst entwickelte „Murx ...“ sowie „Sturm vor Shakespeare“ an Castorfs Volksbühne; „Faust Wurzel aus 1+2“ (eine waghalsige Goethe-Bearbeitung) und die „Faust“-Version des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa am Hamburger Schauspielhaus. Wer sich diese Aufführungen ansieht, gerät in einen seltsamen Taumel: Die Zeit steht still, die Welt verwandelt sich in eine Mischung aus Kneipe und Wartehalle, und der Zuschauer verliert sanft den Boden unter den Füßen: das Leben, ein Traum (oder ein einziger langgezogener Kater). In Marthalers Theater geschieht so gut wie nichts: keine dramatischen Konflikte und keine Geschichte – oder zahllose winzige Geschichtchen, Spiele um nichts. Seine Figuren scheinen fast immer auf irgendwas zu warten, ohne genau zu wissen, auf was; vielleicht haben sie es längst vergessen – späte Nachkommen von Becketts Geschöpfen. Das Warten vertreiben sie sich mit obskuren Beschäftigungen, mit liebevoll aufeinander eingespielten Bösartigkeiten und geheimnisvollen Privatritualen. Die Persönlichkeitsreste der traurigen Gestalten offenbaren sich in Ticks und autistischen Übungen. Sei es, daß verdrehte Forscher ihre Papiere aufessen (in Goethes „Faust“), sei es, daß ein panischer Onanist den Disziplinarmaßnahmen eines älteren Herrn ausgeliefert ist (in „Murx“) – diese und zahllose andere Manöver werden so routiniert und halbgelangweilt absolviert, daß unübersehbar ist, wie sehr sich die Insassen von Marthalers Wartesälen längst an ihre aussichtslose Lage gewöhnt haben. Seit einer Ewigkeit vertreiben sie sich mit ihren Spielen die Langeweile, und ein Ende des Elends ist nicht abzusehen. Selbst die gelegentlichen Ausbrüche und Amokläufe sind melancholische Veranstaltungen: Hinterher ist sowieso alles beim alten. Und weil Anstaltsinsassen es nicht besonders eilig haben, gehen ihre Rituale kunstvoll verlangsamt vor sich. Von Entwicklung oder Spannung keine Spur: Die Zeit geht im Kreis. Kaum ein Vorgang taucht nur einmal auf – jeder Gang und jede Replik sind ein Echo. Wiederholung und Variation sind die musikalischen Muster, die Marthalers Abende strukturieren. Die lineare Zeit, könnte man sagen, verwandelt sich in eine zyklische.

Durch das Spiegelkabinett der Echos und Variationen entsteht ein geschlossenes System, das den Kontakt zur Außenwelt längst verloren hat. Jeder mögliche Spielzug wurde ausprobiert, jetzt bleiben nur noch Wiederholungen übrig. „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues“ (Beckett, the one and only). Für Marthalers Gestalten scheint keine Außenwelt zu existieren: die Bühnenräume haben weder Ausgänge noch Ausblicke. Es sind Kneipen oder riesige Wartesäle, Fabrikhallen oder Hotelfoyers – immer besitzen sie, trotz der realistischen Details, die rätselhafte Aura von Endstationen, bewohnt von Erinnerungen. Durch „Murx ...“, den „patriotischen Abend“, geistern Schlager aus den dreißiger Jahren, sozialistisches Liedgut und Klezmer-Musik, die neben einer riesigen Ofenanlage gespielt wird – Ablagerungen deutscher Geschichte, Erinnerungsfetzen der Übriggebliebenen, die nun, am Ende des Jahrhunderts, ratlos herumsitzen.

Die Türen der geschlossenen Anstalten verhöhnen jeden Ausbruchversuch. In „Murx“ führt die gewaltige Schiebetür an der Rückwand nur in einen Waschraum – was gespenstische Assoziationen zu Gaskammern und deutschem Sauberkeitskult eröffnet. In Goethes „Faust“ scheitern Fausts und Mephistos Versuche zu verschwinden an der unbarmherzigen Drehtür, die sie immer wieder auf die Bühne zurückwirft, und in Pessoas „Faust“ trägt die einzige Tür die unmißverständliche Aufschrift „Hommes“ (frz.: Männer, Anm...). Besonders perfide sind die Türen im „Sturm“: Aus Shakespeares Schiffbrüchigen ist eine feine Abendgesellschaft geworden, aus der Insel ein Salon und aus dem Meer die Türen, durch die man höchstens in einen winzigen Flur, aber nicht nach draußen (was immer das sein mag) gelangt. Zehnmal, wenn ich richtig gezählt habe, unternehmen die im Salon Gestrandeten einen Ausbruchversuch, mal vornehm nach einem formvollendeten Ritual des Mantelanziehens, mal panisch – das Ergebnis ist jedesmal das gleiche: kein Entrinnen.

Aus diesen ausweglosen Lagen entsteht alles: all die kleinen Spielchen und kurz aufflackernden Gefühlsausbrüche, die Melancholie und die Lieder, die durch die Abende spuken. Weil wenig „passiert“, werden Kleinigkeiten bedeutsam: Wenn jemand aufsteht und zur Theke geht, ist das ein geradezu dramatischer Moment. Die vier Herren, die in Pessoas „Faust“ an Caféhaustischen sitzen und schreiben und grübeln, machen aus dem fast gleichzeitig, aber jeweils etwas anders vollführten Spitzen eines Bleistifts ein Stück Kammermusik: ein Quartett für vier Bleistifte.

Bei der Liebe zur Langsamkeit ist es kein Wunder, daß Marthaler den Fortschrittseuphorien und Beschleunigungen mißtraut. Faust (Sepp Bierbichler, klasse!), der besessene Forscher hat sich in einen müden Clochard verwandelt, und als er davon schwärmt, dem Meer dank Kunst und Wissenschaft Land abzutrotzen, mutiert er zum Stammtischdiktator, der sich in die Brutalität hineinredet – keine utopische Vision, sondern eine F.-J.- Strauß-Karikatur. Was von Fausts Erkenntnisstreben im zwanzigsten Jahrhundert übriggeblieben ist, erfahren wir in Pessoas „Faust“-Version: „Wogen des Strebens, die im Nichts verrollen ...“ Im „Sturm“ ist die Liebe zum Wissen gar lebensgefährlich: Die dicken Bücher, die Prospero so liebt, hageln krachend aus dem Schnürboden. Ein Herr, offenbar ein Spinner, errichtet aus ihnen einen kleinen Turm, beklettert ihn und stürzt erbärmlich ab – der Turmbau zu Babel in der bibliophilen Version.

Die Fortsetzung des endlosen Wartens ist der Halbschlaf – Marthalers Figuren neigen zum Schlummern, und selbst wenn sie umhergehen, kann man nicht sicher sein, daß sie ganz wach sind: Schlafwandler und Somnambule. Die Schlafkrankheit ist mehr als ein Gag. Vielleicht sehen wir nicht nur Träumenden zu, vielleicht sehen wir den Träumen selbst zu – ja, vielleicht träumen sich die Figuren, zumindest in Momenten, gegenseitig. Im „Sturm“ beispielsweise sitzt ganz hinten ein alter Mann, der gelegentlich von der rechten in die linke Ecke schlurft und ansonsten vor sich hin döst. Vielleicht geistern die Spiele der anderen durch seinen müden Kopf: „Die Gehirnschale hat das Monopol für solche Artikel“ (Beckett). Ja, vielleicht gilt für Marthalers Geschöpfe, was Fernando Pessoa, ein Seelenverwandter des Regisseurs, über die Labyrinthe seines eigenen Werks sagt: „Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald er geträumt erscheint, in einer anderen Person; dann träumt sie, nicht ich. Ich bin die lebendige Bühne, auf der verschiedene Schauspieler auftreten, die verschiedene Stücke aufführen. Für die Zuschauer bedeutet das, daß sie nie ganz sicher wissen, ob sie nun ins Innere einer Gehirnschale oder auf eine Wartehalle blicken, ob die Schlafwandelnden Gestalten Traumgespinste oder Persönlichkeiten sind. Für die Traumvariante spricht, daß sie zu Verdopplungen neigen – Gretchen zum Beispiel taucht im „Faust“ gleich viermal auf. Wer Marthalers Labyrinthe betritt, verliert nicht nur jedes Zeitgefühl, er fängt an, die äußere Qualität nicht mehr ernst zu nehmen. Die Reise geht weiter: Marthalers nächste Station auf der Flucht aus der Zeit ist eine Performance über „Sucht/Lust“ am Hamburger Schauspielhaus (Premiere: 30.3.), anschließend koppelt er seine Träume mit denen des Herrn Debussy und inszeniert dessen Oper „Pelléas et Melisande“ in Frankfurt/Main. Das wird schön. Peter Laudenbach