Wo bitte, geht's hier zur Stadt?

Über die Stadt als Idee und ihr verlorenes „urbanes“ Profil / Statt natürlicher und architektonischer (Frei-)Räume erleben wir die Simulation des Öffentlichen  ■ Von Robert Kaltenbrunner

Wer dem unbefriedigenden und zum Teil chaotischen Eindruck vieler städtischer Situationen nachsinnt, wird sehr bald zu der Erkenntnis gelangen, daß der ästhetische Befund auch einen sozialen und politischen spiegelt. Das hängt mit einer tagtäglichen Erfahrung mangelnder Urbanität, ja „Öffentlichkeit“ schlechthin zusammen. Soziologisch gesehen ist Öffentlichkeit ein sozialer Aggregatzustand, für den der ungehinderte zwischenmenschliche Verkehr von grundlegender Bedeutung ist. Er bedarf bestimmter geistiger, natürlicher und/oder architektonischer (Frei-)Räume. Und eines läßt sich feststellen: Die Ausgestaltung dieser (Frei-)Räume ist dabei keineswegs ohne Einfluß auf die Art und Weise der in ihrem Rahmen stattfindenden Prozesse. Die Raumsituation muß in Einklang mit den kulturspezifisch erlernten Orientierungsmustern kommunikations- bzw. öffentlichkeitsfreundlich sein, um Kommunikation und damit Öffentlichkeit überhaupt möglich zu machen.

Hier setzt Andreas Feldtkeller an. „Zweckentfremdet“ nennt er die Stadt, die nicht (mehr) gewährleistet, was zu offerieren ihrem historischen Auftrag entsprach: „Der öffentliche Raum war traditionell ein Bereich, der einer konkreten, vorbestimmten Nutzung entzogen war.“ Genau dieser aber sei nun in unserer Stadt – wie der Gesellschaft insgesamt – verschwunden. Statt der „früher vorhandenen Struktur eines urbanen Alltags“ würden in den Städten nur mehr drei kommunale Infrastrukturen übereinandergeschnitten, eine des Wohlstands zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse, eine des Ersatzes zur Milderung der beklagten Unwirtlichkeitseffekte und eine simulative, die das Fortbestehen des Urbanen vortäuscht. Das alles klingt abstrakter, als es ist. Die Erklärung ist nur einige Seiten weiter nachzulesen: „Daß der Mangel an einer Idee von der Stadt in unserer Gesellschaft nicht als ein solcher empfunden wird, hängt mit der Attitüde zusammen, in der Stadt hauptsächlich ein Instrument zur Befriedigung eigner, privater Interessen und Belange zu sehen.“

Die Sache des Autors ist also die Res publica, und die macht er – im wahrsten Sinne – zur öffentlichen Angelegenheit. Geprägt von seinen praktischen Erfahrungen als Leiter des Tübinger Sanierungsamtes, wertet er den Befund: „Nie ist die Stadt als Ganzes urban: stets sind es einzelne Situationen, die dort, wo sie eng genug beieinanderliegen, zu einem urbanen Stadtgeflecht werden können.“ Feldtkeller beklagt, daß das Städtische zur bloßen Simulation degeneriere, daß Stadt nur noch der Name für eine Siedlungseinheit ohne Inhalt sei. „Öffentlichkeit findet nicht mehr statt.“ Der Ort, an dem Öffentlichkeit als Möglichkeit für theoretisch alle Menschen stattfinden kann, mißt sich nicht allein an ästhetischen Parametern, sondern auch an gesellschaftlichen. Entscheidend sind die Grenzen, die räumlichen wie die immateriellen. Jene bestehen zumeist aus festen Körpern: tektonischen Elementen, bei Plätzen auch aus ganzen Gebäudegruppen. Diese definieren sich nach einem anderen Reglement – und mancherlei Mißverständnissen. Beispielsweise im Begriff der „öffentlichen“ Gebäude und Einrichtungen, die „zwar allgemein zugänglich, aber eben nicht in dem Sinne öffentlich sind, daß sie jedermann beliebig offenstünden“. So ist also auch die Zwanglosigkeit des Rahmens wichtig, innerhalb dessen sich Kontakte ergeben (können). Gerade die Bandbreite des Möglichen ist das eigentlich Spannende an der „urbanen“ Situation. In den Worten von Hans Paul Bahrdt: „Trotz aller Kasuistik erlaubter Themen kann sich aus der Frage nach dem Weg ein Flirt entwickeln.“

Mühelos läßt die Relevanz des Buches sich ausweiten. Die vom bürgerlichen Individualismus seit dem Beginn der Renaissance Schritt um Schritt aufgegebene Idee der Ganzheit wurde auch von unserer pluralistischen (oder wie auch immer verfaßten) Gesellschaft nicht wiedergewonnen. „Verlust der Mitte“ hat das der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr bereits vor Jahrzehnten genannt. Der Brückenschlag zur Stadt liegt nur allzu nahe: Wo die Idee der Ganzheit, die Vorstellung eines Verwobenseins in größere Zusammenhänge nicht mehr allgegenwärtig ist, kann ihre Spiegelung oder Nichtspiegelung in den kulturellen Schöpfungen des Menschen auch nicht mehr als wohltuend oder schmerzhaft empfunden werden. Für die Gestaltung öffentlicher Räume gilt insoweit nichts anderes als für alle anderen menschlichen Bemühungen auch.

Hier ist der Leser gefordert, Feldtkellers Ansatz selbst weiter zu interpretieren. Verlust der Mitte bedeutet in seinem Sinne insbesondere den Verlust der Chance, aus einem konzentrationsfördernden räumlichen Ensemble heraus zu einer geistig-gesellschaftlichen Mitte zu gelangen – zu jener Mitte also, aus der allein die normative Kraft zur Auslotung der Grenzen legitimer Selbstentfaltung erwachsen kann. Zu jener Mitte also auch, die die Demokratie aus dem öffentlichen Diskurs zu gewinnen hofft.

Der Autor bietet, dankenswerterweise, keine Patentlösungen. Er will vielmehr sensibilisieren, aufmerksam machen, neue Sichtweisen evozieren. Dabei gibt er sich keinerlei wissenschaftlicher oder sprachlicher Überfrachtung hin, bleibt immer unprätentiös und überraschend konkret. Möglichkeiten zur Kritik im einzelnen gäbe es gleichwohl. Doch warum sollte man? Steht ein dezidiertes Anliegen im Vordergrund, dann gibt es auch ungeschützte Flanken. Sein Plädoyer wider die Zerstörung des öffentlichen Raumes ist aus sich selbst heraus nur allzu berechtigt. Ein Mißstand übrigens, für den Hannah Arendt einst ein schönes Wort geprägt hat: „Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihrer Mitte verschwinden sieht, so daß nun zwei sich gegenübersitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind.“ Bei Feldtkeller bekommt das Tischerücken einen neuen, eminent öffentlichen Sinn.

Andreas Feldtkeller: „Die zweckentfremdete Stadt. Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums“. Campus Verlag, Ffm 1994, 192 Seiten, zahlreiche sw. Abb., 34 DM