„Das Tabu muß gebrochen werden“

■ Was eine „Schattenriß“-Mitarbeiterin zur Prävention gegen sexuellen Mißbrauch aus den USA mitbrachte

Die Lehrerin Helga Merkelbach arbeitet seit Jahren für die Prävention von sexuellem Mißbrauch an Kindern. Um Unterichtsmaterialien zusammenzustellen, die es LehrerInnen erleichtern sollen, das Thema in der Schule anzugehen, wurde sie von der Bildungsbehörde für wöchentlich fünf Stunden freigestellt. Seit Februar ist die „Infothek“, die Materialien für alle Schultypen enthält, bei der Beratungsstelle „Schattenriß“ zugänglich. Vor wenigen Tagen kehrte Helga Merkelbach von einer sechswöchigen Studienreise in die USA zurück, wo sie zahlreiche Präventionsprogramme kennenlernte.

taz: Was haben Sie beim Blick über den schwarz-rot-goldenen Tellerrand entdeckt?

Helga Merkelbach: Ich hatte gehofft, viel Material mitbringen zu können. Statt dessen bin ich vor allem mit Ideen zurückgekommen, wie die Situation mißbrauchter Kinder verbessert werden kann. Beispielsweise werden in den USA Kinder darauf vorbereitet, wenn sie vor Gericht gegen den Täter aussagen müssen. Sie besuchen vorher in Gruppen von Betroffenen die Gerichtssäle und schauen sich an, wie es dort aussieht. Am Nachmittag lernen sie: Wie kann ich Streß verhindern? Worüber muß ich vor Gericht sprechen? Für die Eltern findet eine parallele Vorbereitung statt. Auch die müssen ja lernen, ihren Kindern zu helfen.

Fasziniert hat mich auch ein Experiment im Freizeitbereich: Tierschützer haben beobachtet, daß Tierquälerei und Mißhandlung von Kindern meist gleichzeitig stattfinden und ein Projekt entwickelt, wo betroffene Kinder einmal wöchentlich mit Pflanzen und mit Tieren zusammengebracht werden. Die Kinder lernen dabei: Wenn man Lebewesen pflegt und umsorgt, dann wachsen sie. Und: So sollen die Menschen mit dir umgehen – und du mit anderen. Das läuft auf einer ganz naiven Grundlage, da ist kein Therapeut dabei. Das machen Leute, die mit Tierschutz zu tun haben und den Kindern einfach helfen wollen. Sowas könnte ich mir hier auch vorstellen: Man läßt die Kinder etwas Positives erleben.

Ist man in den USA erfindungsreicher und menschlicher im Umgang mit dem Thema „sexueller Mißbrauch“?

Nein, so nicht. Es gibt zwar eine Vielfalt von Programmen auf der einen Seite. Andererseits hat man sich aber noch nicht von den Standardprogrammen verabschiedet, die es schon seit 20 Jahren gibt. Das Cap-Programm (Child-Assault-Prevention) wird immer noch durchgeführt; ein Hauruck-Programm: Für ein paar Stunden kommen schulfremde Leute in die Klasse und sprechen über das Thema sexueller Mißbrauch. Verschiedene Szenen werden als Rollenspiel vorgespielt, man zeigt ihnen auch, wie sie sich wehren können: Mit Fußtritten und so.

Nichts zum Nachmachen also? Naja, es war schon sehr beeindruckend, wie engagiert Ehrenamtliche, meist junge Erwachsene, StudentInnen oder Inzest-Überlebende hinter dem Programm stehen. Aber als Fachfrau muß ich sagen, daß sie leider nicht ausreichend pädagogisch qualifiziert sind. Dabei gibt es fantastisch gute Trainings-Programme, die man als Lehrerin in der eigenen Klasse durchführen kann. Allein in Seattle sind fast dreißig Personen beim „Committe for Children“ angestellt, das nach wissenschaftlichen Ergebnissen vorgeht und erarbeitet, wie das Thema Mißbrauch altersbezogen in der Schule behandelt werden kann.

Der Traum der Infothek-Macherin...?

Nein, für uns ist das schon fast zu perfekt, deutsche Lehrer würden sich bevormundet fühlen. Aber andererseits können auch Unsichere so das Thema angehen. Diese Trainings-Programme werden in der ganzen Welt verkauft. „Violence“ heißt das neueste: Weil man weiß, daß Kinder Gewalt nicht nur erleben, sondern untereinander wiederholen, wurde mit vielen Rollenspielen ein Programm entwickelt, das die Gewaltleiter durchbrechen soll. Da können die Kinder lernen, wie man Konflikte austrägt, ohne vielleicht gewalttätig zu werden. Daraus möchte ich gerne einiges ins Deutsche übertragen.

Und was steht noch auf der Wunschliste?

Es müßte gegen Kindesmißbrauch auch ein verbessertes Anzeige-System geben. Jedes Kind, das eingeschult wird, muß doch zum Schularzt – aber Ärzte schweigen, manche nehmen das womöglich auch nicht wahr. Ärzte und LehrerInnen müßten mal an einen Tisch und nach Lösungen suchen. Vielleicht kann ja die Zusammenarbeit zwischen Schularzt und Klassenlehrerin verbessert werden, um so eine Intervention einzuleiten – trotz Schweigepflicht der Ärzte. Das Tabu muß einfach gebrochen werden.

Wird durch die Anzeigepflicht das Problem gelöst?

Da sind viele Wege zu gehen. Ein anderes Beispiel, was mich richtig gerührt hat, sind „Parenting-Classes“. Dazu werden Eltern verdonnert, die ihre Kinder vernachlässigt oder mißhandelt haben. 12 Wochen dauert die „Elternschule“, einmal wöchentlich trifft man sich und lernt, wie man bessere Eltern wird. Sowas könnten unsere Eltern auch gebrauchen. Streßbewältigung beispielsweise: Was mache ich, wenn ich Streß habe und mein Kind zusätzlich nervt? Oder: Wie kann ich eine Familienkonferenz durchführen?

Ist es so einfach: Wir können alles lernen?

Das ist ja die US-amerikanische Grundidee: Alles läßt sich individuell von mir bewältigen. Nur muß mir jemand Kraft geben. Mich persönlich fasziniert die Glaubenskraft, die dahintersteckt, Vielleicht etwas naiv – aber immerhin passiert etwas.

Sind die ethnischen Gruppen in den USA in die Prävention besser einbezogen, als in Deutschland?

Ja, die meisten Programme werden fremdsprachlich durchgeführt und den kulturellen Gegebenheiten angepaßt. In der Praxis sieht das allerdings manchmal anders aus. Zwar habe ich bunt gemischte Schulklassen besucht – aber geredet haben hauptsächlich weiße Jungen – und die japanischen Mädchen haben den Mund nicht aufgemacht. Nur in einem Projekt habe ich erlebt, daß die MitarbeiterInnen den verschiedenen Kulturen angehörten. Aber aus den USA können wir uns natürlich schlecht Muster holen.

Gibt es bei uns auch fremdsprachliche Prävention?

Nein. Aber wir müssten dringend türkische Leute ansprechen, um ein Programm zu entwickeln.

Ist die Arbeit hier also doch 20 Jahre zurück?

Nein, wir haben gute Materialien. Das Plus bei unserer Arbeit in Deutschland ist auch der selbstverständliche Umgang mit dem Thema Sexualerziehung. In den US-amerikanischen Programmen steckt viel Prüderie. Von Scheide oder Penis ist da keine Rede: Da wird stattdessen von „privater Zone“ gesprochen. Die fortschrittlichen Organisationen kennen das Problem – und haben sich sogar Bücher von mir dabehalten. Trotzdem liegt noch ein Berg vor uns: Wir müssen uns stärker spezialisieren in den Bereichen Intervention, Prävention oder Therapie. Andere müssen einen Teil der Arbeit übernehmen.

Heißt das Abschied vom Expertentum – hin zu mehr Freiwilligen-Arbeit?

Nein. Sondern wer sowieso mit Kindern arbeitet, muß besser befähigt werden, das Thema Gewalt und Mißbrauch in der Erziehungsarbeit aufzunehmen. Das muß unser Schwerpunkt für die nächsten Jahre sein. Fragen: Eva Rhode