Hilflos vor der Chemikalienflut

UN-Konferenz bemüht sich um bessere Chemikalienkontrolle / Der „Dritten Welt helfen“ bleibt jedoch ein Schlagwort ohne Folgen  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Mehrere 10.000 Menschen, die meisten jahrelang in Giftwolken eingehüllte Landarbeiter, sterben jährlich den Vergiftungstod durch Handhabung von Chemikalien. Die Giftwolken der Industrieländer, die Produkte, welche die Landarbeiter zusammen mit sich selbst vergiften, landen zum großen Teil auch wieder auf den Tischen in den westlichen Industrieländern. Verwunderlich, daß die UN-Chemikalienkontrollkonferenz, die in Stockholm zu Ende geht, ihr Hauptziel in Aktivitäten in dieser „Dritten Welt“ sieht. Die sich doch vorwiegend wie der ausgelagerte Kriegsschauplatz der Industrieländer für den Kampf zwischen Natur und Chemie darstellt.

Arbeitsschutz statt Verbote für Gift

Verwunderlich und bezeichnend: Der eigenen Chemieindustrie nicht zu sehr wehtun, möglichst aber auch nicht zuviel Gift über die Nahrung aus der Dritten Welt zugeliefert bekommen, so scheint das Motto. Ein glaubwürdiges moralisches Engagement für einen Mindestarbeitsschutz in der Dritten Welt folgte. Erreicht werden soll das Ganze durch ein Ansetzen nicht an der Produktionsquelle, sondern am Ende der Anwendungskette. In allen Ländern soll mit Hilfe der UN, der Weltgesundheits- (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), ein Mechanismus aufgebaut werden, der registriert, empfiehlt und kontrolliert.

Neben den Chemikalien selbst wollen die Industrieländer also auch ihre oft mehr schlecht als recht funktionierenden Chemiekontrollen exportieren. Ob das hilft, bezweifeln am Rande der Konferenz nicht nur Greenpeace und andere Umweltschutzorganisationen. Sie haben den Verdacht, daß gleich über den ersten Schritt beim Aufbau eines weltweit einheitlichen Registrierungs- und Klassifizierungssystems es um etwas ganz anderes als den Schutzgedanken geht: den Abbau von Handelshindernissen und eine weitere Verstärkung der Macht der Chemiekonzerne.

Kerstin Nibleaus, als Generaldirektorin der schwedischen Chemiekontrolle Gastgeberin der Konferenz, sprach Klartext, was die Bestandsaufnahme angeht: „Wir stellen Chemikalien her, die wir bei uns selbst nicht wollen, exportieren sie für teures Geld in die armen Länder, wo man weder die Kenntnisse noch die Möglichkeiten für einen verantwortungsvollen Umgang hat.“ Schweden hat es relativ einfach, die Chemiekonzerne aus Deutschland, Frankreich und den USA zu prügeln: Man importiert selbst, weil eine eigene Chemieindustrie fehlt, 80 Prozent aller Chemieprodukte.

Schweden ist also fast in einer „Dritten-Welt-Rolle“. Mit dem großen Unterschied, daß man es sich leisten konnte, mittlerweile eine recht gut funktionierende Chemikalienkontrolle aufzubauen.

60.000 verschiedene chemische Produkte haben die Hunderte von Beschäftigten der Chemikalieninspektion (KI) mittlerweile registiert. Jährlich fallen 4.000 bis 5.000 aus dem Register heraus, weil sie in Nordeuropa nicht mehr vertrieben werden. 6.000 bis 7.000 neue kommen hinzu.

Mehr Chemikalien kaum zu kontrollieren

Weltweit wird die Zahl aller chemischen Produkte auf über 100.000 geschätzt. Trotz eines jahrzehntelang eingespielten Kontrollsystems und eines umfassenden flankierenden Gesetzgebungsapparates ist ein Industrieland wie Schweden meilenweit von einer umfassenden Kontrolle entfernt. Was die Registrierung und Analyse möglicher Wirkungen der Chemieprodukte angeht. Von der Kontrolle der Anwendung ganz zu schweigen.

„Eine größere Kooperation der Hersteller würde viel helfen“, erklärt KI-Informationschef Lars Freij. Außerdem eine lückenlose Durchsetzung der Produzentenhaftung und des Substitutionsprinzips: Verpflichtung der Industrie, gefährliche Chemikalien gegen vermeintlich weniger gefährliche auszutauschen, sobald es entsprechende Alternativen auf dem Markt gibt. Hehre Ziele, doch große Unklarheit blieb, wie dies und der Versuch schnellerer Risikoanalysen gefährlicher Stoffe und ein Stopp des Verkaufs verbotener Mittel auch tatsächlich weltweit umgesetzt werden sollen.

Die Tendenz scheint eher in Richtung einer weiterhin unkontrollierten Anwendung selbst längst verbotener Chemikalien zu gehen, wie Peter Hurst vom Worldwide Fund for Nature (WWF) berichtete: „Selbst DDT ist in vielen afrikanischen Ländern noch zu bekommen, und renommierte Chemiekonzerne verdienen gut daran, daß auf verschlungenen Wegen alles mögliche in die Dritte Welt verkauft wird. Und was wissen wir über Langzeiteffekte neuer Substanzen, die jetzt noch als unbedenklich gelten?“