Ansichtskartengrüße aus der Arbeitswelt

■ „Über Arbeitsnachweise“ – ein Feuilleton von Siegfried Kracauer aus der „Frankfurter Zeitung“ vom 17. Juni 1930

Konstruktion eines Raumes. Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum. So gehört zum Generaldirektor jenes neusachliche Arbeitszimmer, das man aus den Filmen kennt, die ihr Original oft nicht einmal erreichen. Man täuscht sich über die Kolportage: sie bleibt an Erfindungskraft meist hinter der Wirklichkeit zurück. Als charakteristischer Ort der kleinen, unabhängigen Existenzen, die sich noch immer gern dem verschollenen Mittelstand zurechnen, bildet sich mehr und mehr die Siedlung heraus. Die paar dort verwohnbaren Kubikmeter, die auch durchs Radio nicht erweitert werden, entsprechen genau dem engen Lebensspielraum dieser Schicht. Der für die Erwerbslosen typische Raum ist reichlicher bemessen, aber dafür das Gegenteil eines Heims und gewiß kein Lebensraum. Es ist der Arbeitsnachweis. Eine Passage, durch die der Arbeitslose wieder ins erwerbstätige Dasein gelangen soll. Leider ist die Passage heute stark verstopft.

Ich habe mehrere Berliner Arbeitsnachweise besucht. Nicht um der Lust des Reporters zu frönen, der gemeinhin mit durchlöchertem Eimer aus dem Leben schöpft, sondern um zu ermessen, welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System unserer Gesellschaft einnehmen. Weder die verschiedenen Kommentare zur Erwerbslosenstatistik noch die einschlägigen Parlamentsdebatten geben darüber Auskunft. Sie sind ideologisch gefärbt und rücken die Wirklichkeit in dem einen oder anderen Sinne zurecht; während der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit selbst gestellt ist. Jeder typische Raum wird durch die typischen gesellschaftlichen Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.

Wie die Arbeitslosenunterstützung zum Arbeitslohn, so verhält sich der Arbeitsnachweis zum regelrechten Büro. Er liegt gewöhnlich ungünstiger als die normale Arbeitsstätte, man merkt dem Raum an, daß er von der Gesellschaft notgedrungen den Freigesetzten eingeräumt worden ist. Seine Unterbringung in einem eigenen Gebäude, das früher eine Schule gewesen sein mag, mutet schon beinahe wie eine Ausnahme an. Der Leiter einer erst kürzlich geschaffenen Vermittlungsstelle für Kraftfahrer, Piloten usw. bedauerte mir gegenüber, daß sein Nachweis so schlecht gelegen sei. Im Interesse der Vermittlung: denn die Arbeitgeber sprächen nicht gern in einem Quartier vor, in dem sie Angst haben müßten, ihre oft kostbaren Wagen ohne Aufsicht auf der Straße stehen zu lassen. In der Tat ist die nähere Umgebung mit Zillefiguren bevölkert und nicht der geeignete Aufenthalt für edle Karosserien.

Andere Arbeitsnachweise sind in den rückwärtigen Teilen großer Gebäudekomplexe angeordnet. Einem, in dem Metallarbeiter vermittelt werden, ist gerade noch in den dunkelsten Regionen Platz gegönnt. Um zu ihm vorzudringen, muß man von der Straße aus zwei Höfe durchmessen, die von verdrossenen Backsteinmauern eingekeilt werden. Der Druck, den die Steinmassen ausüben, erhöht sich dadurch, daß in ihnen immerhin noch gearbeitet wird. Zuletzt spürt man die Straße nicht mehr. Der Arbeitsnachweis selbst befindet sich drei Treppen hoch am äußersten Ende dieser Winkelwelt und gleicht insofern einem umgekehrten Schlaraffenland, als man sich auf dem Weg zu ihm erst durch die endlose Geruchszone einer Volksspeiseanstalt durchzuarbeiten hat. Daß er den Eindruck eines an die Hinterfront verstoßenen Speichers macht, hat durchaus seine Richtigkeit. Auch die Arbeitslosen harren an der Hinterfront des gegenwärtigen Produktionsprozesses. Sie scheiden aus ihm als Abfallprodukte aus, sie sind die Reste, die übrig bleiben. Der ihnen angewiesene Raum kann unter den herrschenden Umständen kaum ein anderes Aussehen als das einer Rumpelkammer haben.

Von den Fenstern des Metallarbeiter-Nachweises blickt man auf das Erwerbsleben, das sich in den Vorderhäusern abspielt. Sie, die vom Produktions- und Verteilungsprozeß ausgefüllt sind, verdecken den ganzen Horizont des Arbeitslosen. Er hat keine eigene Sonne, er hat immer nur den Arbeitgeber vor sich, der ihm höchstens dann nicht im Licht steht, wenn er Arbeit gibt. „Wir sind in erster Linie eine Organisation für Arbeitgeber“, erklärt mir ein Abteilungsleiter.

Daß das Hinterhaus des Arbeitsnachweises im Schatten des vom Arbeitgeber bewohnten Vorderhauses existiert, prägt sich bei der Vermittlung aus. Zu bestimmten Stunden werden jeweils bestimmte Berufe vermittelt: Dreher, Rohrleger, Konfektionsschneider usw. Ein Beamter besteigt einen kleinen erhöhten Podest inmitten des Saals und gibt die ausgeschriebenen Stellen bekannt. In der Regel umdrängen ihn dichte Scharen, die auf Arbeit warten. Sie lauschen den Verkündigungen, die aus der Höhe des Arbeitgeberbereiches auf sie niederträufeln – ein immer wiederkehrendes Bild, das sinnfällig die völlige Abhängigkeit der Erwerbslosen von den Vorderhausmächten belegt. Suchen diese den Arbeitsnachweis auf, so steht ihnen ein besonderer Arbeitgeberraum zur Verfügung, in dem sie mit den Arbeitskräften verhandeln können. Ein unmittelbarer Verkehr, den angesichts der heutigen Beschaffenheit des Arbeitsmarktes nur wenige erhoffen dürfen. „Auf 2.000 Bewerbungen“, so erfahre ich im Nachweis fürs Textilgewerbe, „kommen zur Zeit etwa zehn Angebote.“ Man nennt mir hier und dort nicht minder trostlose Zahlen, die wiederzugeben keinen Zweck hat, da sie sich allesamt in der Statistik finden.

Wesentlicher und für die Lokalität bezeichnend ist etwas anderes: der Aspekt nämlich, unter dem von ihr aus der Produktionsprozeß erscheint. Wie ein dunkles Verhängnis lastet er auf den Gemütern. Während man in besser gelegenen Himmelsstrichen seinen natürlichen Verlauf übersieht und ihn zu regulieren, wo nicht abzubrechen trachtet, spricht man in diesen Speicherräumen im Flüsterton von ihm und mit einem Fatalismus, als sei er das Schicksal (...), ohne ein Wort der Kritik, die an diesem Platz allerdings auch nicht am Platz wäre. Es ist so, es muß wohl so sein. Die dumpfe Ergebenheit in die Wechselfälle der Konjunktur ist geradezu ein Merkmal der Arbeitsnachweise. Hier, wo man im Rücken des allgewaltigen Produktionsprozesses sein Dasein fristet, schimmern noch die Kategorien, die ihn zu einem unabwendbaren Naturereignis gestempelt haben, in ihrem alten Glanz. Hier ist er noch Abgott, und nichts gibt es über ihm. (...)

Die Erwerbslosen befassen sich im Arbeitsnachweis damit, zu warten. Da im Verhältnis zu ihrer Zahl die der Stellen augenblicklich vernachlässigt werden darf, wird das Warten beinahe zum Selbstzweck. Ich habe beobachtet, daß viele bei der Verlesung der Angebote kaum noch hinhorchen. Sie sind schon zu abgestumpft, um an ihre Auserwähltheit glauben zu können. (...) Daß sie die Mütze oder den Hut meistens aufbehalten, mag ein schwaches Zeichen des Freiheitswillens sein. Nur im Zimmer nimmt man die Kopfbedeckung ab; dieser Raum aber soll kein Zimmer sein, sondern allenfalls eine Passage, ob man auch Monate hindurch in ihr weilt. Mir ist nicht eine Örtlichkeit bekannt, in der das Warten so demoralisierend wäre. Um ganz davon abzusehen, daß ihr in diesen Zeiten der Stagnation das Ziel fehlt: es fehlt ihr vor allem der Glanz.

Weder ist der Empörung gestattet, hier laut zu werden, noch erhält der aufgezwungene Müßiggang irgendeine andere Weihe. Im Gegenteil, das Nichtstun vollzieht sich durchaus im Schatten und muß auf den gesellschaftlichen Adelstitel verzichten, der ihm gebührte. Und doch wäre viel zu überglätten, denn die Armut ist immerwährend ihrem eigenen Anblick ausgesetzt. Bald macht sie sich breit mit sichtbaren Flicken und Lappen, bald zieht sie sich bürgerlich-schamhaft ins Verborgene zurück. Bei einem besser gekleideten Schneider etwa hat sie sich als letzten Schlupfwinkel die Manschetten des Hemdes ausersehen. Gelingt es ihr an der einen Stelle, sich zu bedecken, so schlägt sie an der anderen um so sicherer nach außen durch.

Die Körper sind häufig ungepflegt, und ein stickiger Dunst schwelt in den Sälen. So dem unverklärten Beieinander preisgegeben, wird den Leuten das Warten zur doppelten Last. Auf jede mögliche Weise suchen sie sich die sinnlose Zeit zu vertreiben, aber wohin sie auch treiben, die Sinnlosigkeit folgt ihnen nach. Sie schlüpfen in Gespräche hinein, die vom Warten ablenken sollen und vor seinem unendlichen Hintergrund zuletzt doch vergehen. Sie spielen Mühle, Schach und Karten, lauter Glücksspiele, die nur Spielereien des Unglücks sind, weil die hier zum Schicksal emporgesteigerte Not den Durchbruch des Glücks verwehrt. Die Älteren freunden sich vielleicht mit dem Warten wie mit einem Genossen an; für die jugendlichen Erwerbslosen dagegen ist es ein Giftstoff, der sie langsam durchdringt.

Ich bin Zeuge folgenden Gesprächs. Ein Mann beschwert sich beim Beamten: „Nun bin ich ein Jahr ohne Arbeit und habe die Stelle doch nicht bekommen.“ – „Aber der andere ist schon anderthalb Jahre arbeitslos“, wird ihm erwidert. Ein Bescheid von bündiger Klarheit, der auf Grund der Bestimmung erfolgt, daß sich bei gleicher Eignung die Vermittlung nach der Dauer der Arbeitslosigkeit zu richten habe. Stellenanwärter können in manchen Berufen nur berücksichtigt werden, wenn sie über eine gewisse Zeit freigesetzt sind. Die primitive Gerechtigkeit, die in den Nachweisen regiert, ist auf Massen gemünzt, und auch der Arbeitslose ist ein Partikel der Masse. Daß Massen ein- und ausgehen, drückt den Vermittlungssälen den Stempel auf. Immer wieder erleben diese Wände, diese Tragstützen das Schauspiel, daß sich vor den Schaltern endlose Schlangen bilden, daß lose Gruppen zusammenströmen und zerrieseln, daß sich um den Mittelpunkt eines Sprechers ein regelmäßiger Menschenhaufen kristallisiert. Wo solche Massenmuster sich regen, kann die Gerechtigkeit nichts weiter unternehmen, als die Massen zu mustern. Sie muß Quantitäten abwägen, Zeit- und Raummaße werden ihr zur Richtschnur. So ist es gut, und niemand trüge einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, wäre diese Welt der Masse die einzige. Zu ihrem Schaden ist sie es nicht. Man erklärt mir im Arbeitsnachweis für Chauffeure: Gewiß, je länger einer arbeitslos ist, desto eher wird er vermittelt. Aber die Besitzer wertvoller Autos vertrauen ihre Wagen nicht gern einem Chauffeur an, der Monate hindurch gefeiert hat, sondern fordern gewöhnlich einen Mann, der möglichst kurze Zeit ohne Tätigkeit gewesen ist. Da müssen wir eben nachgeben und gegen unsere Prinzipien handeln ... Die Gerechtigkeit in den Niederungen wird so von einem Akt der Willkür durchkreuzt, der freilich alles andere eher als pure Willkür ist. Er fährt in die Unterschicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel der oberen Schichten. In ihnen herrscht statt der Masse der einzelne (...)

„Im Interesse eines reibungslosen Verkehrs ist den Anordnungen des Pförtners bedingungslos Folge zu leisten.“ Dieses Reglement am Hofeingang eines Geschäftshauskomplexes ist dem im Hintergrund befindlichen Arbeitsnachweise vorangeschickt wie die Einleitung eines Buches seinem eigentlichen Text. Was das auf Massenwirkung berechnete Schild verheißt, die Plakate im Rauminnern führen es weitschweifig aus. Sie beziehen sich auf die elementaren Lebensbedürfnisse, die den Massen der Erwerbslosen von Rechts wegen zukommen. Aus wer weiß wie triftigen baupolizeilichen Gründen oder auch solchen des Wohlanstands wird ihnen das Rauchen immer wieder verboten, aus noch triftigeren Gründen rauchen sie dennoch und aus den triftigsten drückt das Aufsichtspersonal beide Augen zu. Neben dem Rauchbetrieb gibt es noch Hunger und Liebe. Jenen können die Metallarbeiter gleich im Arbeitsnachweis selber stillen. In der einen Ecke ist eine Kantine aufgebaut, die als Hauptgetränk Milch feilbietet. Milch ist gesund, aber wie genießt man sie? „Nie ohne etwas zu essen“, verkündet ein sichtbar angeordneter Schriftsatz. „Ein Glas Milch, auf einmal in den leeren Magen gebracht, bildet dort einen schwer verdaulichen Käseklumpen.“ Belegte Stullen, die mithin eine Grundvoraussetzung gesunder Milch sind, häufen sich dicht nebenan auf dem Büfett. Die Bilder von dem Käseklumpen und dem leeren Magen beweisen drastisch, daß die Menschen in diesen Räumen so nackt und bloß dastehen wie die Wände, ein Objekt der Hygiene, die sich freilich durch ihre plumpe Direktheit manche Möglichkeiten verscherzt. Keine Aura hüllt gnädig das Körperliche ein, die Körper treten vielmehr ohne Beschönigung ins grelle Licht der Öffentlichkeit, und die dazugehörigen Menschen sind nur noch Systeme, die bei Zufuhr von Milch nach vorangegangenem Essen schon funktionieren werden. In den Hinterhäusern der Gesellschaft hängen, Wäschestücken gleich, die menschlichen Eingeweide heraus. Ihnen gelten auch die Plakate, die sich über Geschlechtskrankheiten und Geburtenregelung verbreiten. Daß die elementaren Lebensereignisse so resolut angepackt werden, ist in der Ordnung und entspricht durchaus dem Walten der primitiven Gerechtigkeit.

Aber wie das Warten im Arbeitsnachweis keine Erfüllung findet, es sei denn durch die blinde Laune des Produktionsprozesses, so ist auch das elementare Dasein hier nicht eingebaut und umfangen. Es starrt ins Leere, ohne vom Bewußtsein aufgenommen zu werden und seinen Platz zu erhalten. Offenbar aus dem Bedürfnis heraus, es ein wenig zu besonnen, hat man die Mauern ab und zu mit Buntdrucken geschmückt. Unterbrechen Landschaften die Öde oder künstlerische Porträts? Ganz und gar nicht, sondern Bilder, die der Unfallverhütung gewidmet sind. „Denk an deine Mutter“, steht unter dem einen, das wie die übrigen vor den Gefahren warnt, denen die Arbeiter im Verkehr mit den Maschinen ausgesetzt sind. Wunderbar genug: die paar Illustrationen unfreundlicher Vorgänge schimmern freundlich über den Köpfen. Nichts kennzeichnet aber die Beschaffenheit des Raumes mehr, als daß in ihm sogar Unfallbilder zu Ansichtskartengrüßen aus der glücklichen Oberwelt der Tariflöhne werden. Könnten die Erwerbslosen aus dem Arbeitsnachweis unmittelbar dorthin gelangen, so erübrigte sich vermutlich das Plakat „Unnötiger Aufenthalt aus den Treppen nicht gestattet“, das eine Zierde sämtlicher Treppenhäuser ist. Es klingt wie ein Nachwort zu der Sammlung von Texten, die durch das Schild am Hofeingang eingeleitet wird.

Aus: Siegfried Kracauer, „Straßen in Berlin und anderswo“, Das Arsenal, Abdruck der gekürzten Fassung mit freundlicher Genehmigung des Verlags