Die Amerikanisierung der Arbeit

In der schönen neuen Computerwelt spaltet sich die Arbeitnehmerschaft in Oben und Unten, Ost und West, Arm und Reich / Ein Zukunftsszenario  ■ Von Kurt Hübner

In seinem Anfang der achtziger Jahre vieldiskutierten Bestseller „Die Zukunftschance“ berichtet der US- amerikanische Sachbuchautor Alvin Toffler von einem höchst attraktiven Arbeitsmodell. Ein japanisches Ehepaar, das einen Bauernhof geerbt hat, entschließt sich, auf dem Gelände eine zeitlich wie kostenmäßig aufwendige Seidenraupenzucht aufzubauen, wohlwissend, daß sie von den Erträgen nicht leben könnten. Diese Entscheidung ist ihnen deshalb möglich, weil sie zur gleichen Zeit in den Scheunen des Bauernhofes einen Produktionsautomaten aufstellen, der – im Auftrag eines internationalen Großkonzerns – Bauteile eines Plattenspielers zusammensetzt. Da die Steuerung des Produktionsautomaten dank eines gut eingerichteten Computernetzwerkes, das gleichsam nebenbei auch noch die buchhalterischen Aufgaben der „Scheunenproduktion“ übernimmt, lediglich zwei Stunden Koordinations- und Überwachungszeit am Tag erfordert, können die Eheleute ihre restliche Tagesarbeitszeit der nicht automatisierbaren und hohes handwerkliches Geschick erfordernden Seidenraupenzucht sowie der Herstellung von Rohseide widmen. Die „dritte technologische Revolution“, so die optimistische Botschaft dieses Arbeitsmodells, bietet Chancen für eine Neugestaltung des Arbeitslebens, die das berühmte Marxsche Reich der Freiheit bereits im Kapitalismus in greifbare Nähe rücken lassen.

Von diesem und anderen einst hoch gehandelten Entwürfen eines anderen Lebens jenseits von Marktzwängen und technologisch bestimmter Entfremdung ist heute kaum mehr die Rede. Die politischen und sozialen Umwälzungen in Ost- und Mitteleuropa und die ökonomische Krise der entwickelten kapitalistischen Marktgesellschaften scheinen eine Art von Utopieverbot ausgelöst zu haben. Dem ist offenbar auch das Nachdenken über die zukünftige Gestalt der Arbeit zum Opfer gefallen.

Die Sorge um zukünftige Arbeit ist um so berechtigter, als viele Prognosen einen Trend zu gleichsam vollautomatischen Produktionsprozessen unterstellen. Noch in den achtziger Jahren schätzten etwa Experten des Deutschen Gewerkschaftsbundes, daß bis Anfang der neunziger Jahre in der bundesdeutschen Industrie infolge vermehrten Robotereinsatzes eine Million Arbeitsplätze auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnten. Für den Büro- und noch mehr den Bankensektor wurde gar eine Rationalisierungsreserve von bis zu 75 Prozent der Beschäftigten vorausgesagt. Drei Viertel der Beschäftigten würden dank des einsetzenden technologischen Schubes Arbeit und Einkommen – und damit Zukunftschancen – verlieren. Solche Prognosen sind zwar weit von ihrer Realisierung entfernt. Wahr ist aber auch, daß die Zahl der dauerhaft aus dem Produktions- und Beschäftigungssystem Verstoßenen größer denn je ist. Von den technologischen Voraussetzungen her ist in den nächsten Jahren mit einem gewaltigen Sprung in der Arbeits- und in der Kapitalproduktivität zu rechnen. Schleichend und vom Durchschnittsbürger nur am Rande beachtet, haben sich längst ausgeprägte Tendenzen einer Computerisierung des Alltags eingestellt: Der Gang zum Kassenschalter der Banken wurde durch den an nahezu jeder Ecke von Stadt und Dorf stehenden Geldautomaten ersetzt. U-Bahn-, Bus- und Straßenbahntickets werden selbst gegen große Geldscheine an Ticketautomaten verkauft. Kein Fernseher, Video, Stereo, transportabler CD-Player mehr wird ohne die Armada von Fernbedienungen ausgeliefert.

Auch die Vision des High-Tech- Heimarbeiters ist längst wahr geworden, der, voll verkabelt, on line per computergestützer electronic mail mit der Außenwelt verbunden ist und Informationen senden, speichern und verarbeiten kann: in Gestalt von Schriftstellern, freischaffenden Journalisten und Wissenschaftlern, aber auch von Managern und profilbewußten Nachwuchshaien.

Der informatorische Daueranschluß ist auch für die Spezies gesichert, die per volldigitalisiertem tragbarem Autotelefon und transportablem Fax immer und überall sende- und empfangsbereit ist. In allen diesen als Freiheits- und Kompetenzzuwachs annoncierten Fällen handelt es sich ökonomisch gesehen zunächst um nichts anderes als um die Umverteilung von bezahlter zu unbezahlter Arbeit, von Beschäftigung innerhalb in Arbeit außerhalb des Beschäftigungssystems.

Die an die Stelle von Arbeitern und Angestellten in Industrie und Handel getretenen „eisernen“ Diener sind für jedes Unternehmen ein Traum: Sie arbeiten 24 Stunden am Tag, sind pünktlich und zuverlässig, für sie sind keine Steuern zu bezahlen, und sie streiken nicht. Ihr gesamtwirtschaftlicher Nachteil besteht allein darin, daß sie die von ihnen hergestellten Produkte nicht kaufen können.

Auch ohne den Vollzug einer Vollautomatisierung zeichnet sich als Makro-Trend ab, daß dem „Bauernlegen“ während des Übergangs vom agrarischen zum industriekapitalistischen Wachstum und dem „Arbeiterlegen“ während der produktivistischen Massenproduktion ein „Beschäftigungslegen“ folgen wird. Es wird das Leben der Menschen von Grund auf verändern.

Die Zukunft des Beschäftigungssystems ist dabei weniger von technischen Innovationen als von ökonomischen Realitäten und politischen Strategien bestimmt. Dies gilt insbesondere für die Bundesrepublik, in der sich im Zuge des ökonomischen Einheitsprozesses zwei voneinander zu unterscheidende Akkumulationsregime herausgebildet haben, die nur geringe Verkettungseffekte aufweisen. Das Akkumulationsregime der neuen Länder steht allen finanziellen Hilfeleistungen und Subventionsströmen zum Trotz in scharfer Konkurrenz zu all den ostmitteleuropäischen Transformations- und südeuropäischen Peripherieökonomien.

Diese wissen ihre relativ geringen Lohnkosten mit einem mittleren Produktivitätsniveau auf der Basis unterer und mittlerer Technologieproduktionen zu verknüpfen.

Angesichts der politisch angeschobenen Konsumtionsbedürfnisse und des damit verbundenen Nominallohndrucks verliert der ostdeutsche Standort entweder weiter an Attraktivität, oder Politik wie Kapital verfolgen simultan eine Strategie der Produktivitätssteigerung, die verstärkt Freisetzungseffekte zur Folge hat. Solche Freisetzungen sind um so wahrscheinlicher, je erfolgreicher sich in den unmittelbaren Konkurrenzökonomien aufgrund des dort sehr viel geringeren politischen Lohndrucks und damit niedrigerer Lohnstückkosten die vergleichbaren Sektoren verwertungsmäßig günstiger entwickeln.

Ausweiten und verfestigen könnte sich auf diesem Wege ein Nicht-Beschäftigungssystem, das von Transfers gestützt wird, das von dem und für das Akkumulationsregime der alten Bundesländer lebt.

Das Akkumulationsregime der alten Länder wiederum steht in scharfem Wettbewerb auf den globalen Märkten mit den Hochproduktivitätsökonomien der alt- und neuentwickelten kapitalistischen Ländern, der zu weiteren Rationalisierungen, Spezialisierungen und Modernisierungen Anlaß geben wird. Im Zuge der konkurrenzgetriebenen Umwälzung der Arbeits- und Produktionsregime hat sich neuerdings allerdings ein neues Leitbild in Gestalt einer spezifischen Automatisierungsbremse eingestellt.

Gebraucht werden heute hochqualifizierte Produktionsfacharbeiter, die mit den neuen Technologien innovativ, teambezogen und verantwortungsvoll umzugehen vermögen, um die einzurichtenden hochkooperativen Mensch-Maschinen-Systeme in Funktion zu bringen. Der Trend geht in Richtung höhere Qualifikationsanforderungen, die zum Teil auch die Gestalt neuer Berufe annehmen werden.

Freilich werden im industriellen Sektor aber auch in erhöhtem Tempo Anlern- und Routinetätigkeiten weiter abgebaut werden. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit etwa prognostiziert, daß in den kommenden Jahren mehr als drei Millionen Arbeitsplätze von An- und Ungelernten ersatzlos wegfallen werden. Der großen Zahl vom ökonomisch-technologischen Modernisierungszug abgekoppelten Arbeitnehmern korrespondiert mithin eine kleinere Zahl von Rationalisierungsgewinnern. Deren Arbeitsplätze sind und werden qualitativ anspruchsvoller und befriedigender.

Befördert wird durch die mikroelektronischen Technologien aber auch das Entstehen kleinerer, dezentraler und in jeder Hinsicht hochflexibler produktionsnaher Betriebe und Unternehmenseinheiten des neuen Dienstleistungssektors. Diese können die technischen Innovationen mit verschiedensten Arbeitsregimes verknüpfen. Die Arbeit in solchen Betrieben wird in kleinen und kleinsten Einheiten organisiert, die sich im guten Falle auf zukunftsträchtige Weise den starren Regelungen herrschender Arbeitsregimes entziehen, im schlechten Falle sich dem paternalistischen Unternehmensstil von Familienbetrieben der Vergangenheit annähern werden.

Die in den letzten Jahren nicht zuletzt dank der beschleunigten Ungleichverteilung der Einkommen und in Gang gekommene Nachfrage der Rationalisierungsgewinner und Absahner politischer wind fall profits nach persönlichen Dienstleistungen in Gestalt von Putz- und Zugehfrauen, Kindermädchen, Tagesmüttern, usw. wird durch die staatlicherseits gesetzten und zukünftig noch an Bedeutung gewinnenden Anreize zur Schaffung illegaler wie legaler Teilzeitjobs sowie durch die forcierte Lohndifferenzierungsstrategie weiter zunehmen.

Insbesondere im Rahmen des Akkumulationsregimes der alten Bundesrepublik zeichnen sich ausgeprägte „Amerikanisierungstendenzen“ ab, die zunächst durch den informellen Arbeitsmarkt geprägt sein werden, auf dem sich insbesondere ArbeitsimmigrantInnen und das Heer unqualifizierter Arbeitskräfte tummeln, mit deren Lohnsätzen sich nicht einmal Roboter messen können. Je schneller aber die heute schon wieder kräftig ins Horn stoßenden Deregulierungs- und Differenzierungsfanatiker politisch an Oberwasser gewinnen, desto schneller wird die Amerikanisierung des Beschäftigungssystems die Grenzen und die Risiken abhängiger Beschäftigung in Richtung des Kerns der Arbeitnehmer schieben.

Keine Frage: Der bundesdeutschen Gesellschaft wird morgen nicht die Arbeit ausgehen, nicht die über die Arbeitsmärkte organisierte und verteilte Erwerbsarbeit und noch weniger die unbezahlte Eigentätigkeit der Menschen. Zu erwarten ist allerdings eine beschleunigte Verschiebung der Gewichte von Erwerbsarbeit und Eigentätigkeit und vor allem eine Auflösung der Sicherheiten, wie sie das Normalarbeitsverhältnis der Vergangenheit produziert und gewährleistet hat.

Zu erwarten ist vor allem eine sich intensivierende Konkurrenz um Arbeitsplätze. Und zwar einmal ein scharfer Wettbewerb um die relativ kleine Zahl hochbezahlter, zeitsouveräner und motivational zufriedenstellender Arbeitsplätze seitens einer noch wachsenden Zahl akademisch gebildeter Berufsanfänger. Und zum zweiten ein Wettbewerb um überhaupt einen Platz im Beschäftigungssystem einer sich zunehmend einigelnden Mehrheitsgesellschaft.

Vor allem in diesem Wettbewerb werden in den nächsten Jahren neue Wettbewerber auf den Plan treten: die legalen wie illegalen Arbeitsmigranten aus Ost- und Mitteleuropa sowie aus Ländern der Dritten Welt, die in das entwickelte Europa drängen, um für sich und ihre Kinder die Wünsche nach Arbeit und Einkommen zu erfüllen. Davon abgekoppelt bleiben allein die neuen Bundesländer, deren drastisch rückläufige Fertilitätsrate sich gleichsam antizipativ zur Zukunft entwickelt: Wo keine Arbeitskräfte benötigt werden, müssen auch keine gezeugt werden.