Topographie des Widerstandes

Von „Anarcho-Syndikalisten“, „Schwarzer Kapelle“ und „Weißer Rose“ – das Lexikon des deutschen Widerstandes in Nazideutschland will aufklären: handlich, praktisch, gut?  ■ Von Michael Marek

Zu den neuzeitlichen Formen des Erinnerns gehört zweifellos das Lexikon. Nachschlagewerke zur deutschen Einheit, zur Sprache der Staatssicherheit, zur Geschichte des Nationalsozialismus oder zum Holocaust sind mittlerweile Teil des gut verkäuflichen Standardsortiments im Buchhandel. Die alphabetische Ordnung der Dinge erscheint Wissenschaftlern wie Verlegern ein probates Mittel gegen den zu beklagenden historischen Analphabetismus. Da versteht es sich von selbst, daß rechtzeitig zum 50. Jahrestag des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 die Geschichte des deutschen Widerstandes als Lexikon präsentiert wird – auch und gerade für ein breites Publikum, wie der Klappentext anspruchsvoll formuliert.

Die beiden Herausgeber, Walter H. Pehle (Lektor beim S. Fischer Verlag) und Wolfgang Benz (Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung an der TU Berlin), haben ganze Arbeit geleistet. Zusammen mit 38 AutorInnen vermessen sie die Topographie des deutschen Widerstandes. In lexikographischer Reihenfolge werden die Akteure, konspirativen Organisationen und Aktivitäten des deutschen Widerstandes, seine Wirkungen und Perspektiven knapp und übersichtlich in 63 Stichwörtern dargestellt: von A wie „Anarcho-Syndikalisten“ (Hartmut Mehringer) über „Dissens und Verweigerung im Alltag“ (Gerhard Paul), den „Monarchistischen Widerstand in Bayern“ (Karl Otmar von Aretin), die linksliberale „Strassmann-Gruppe“ (Horst R. Sassin), „Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht“ (Norbert Haase) bis Z wie „Zeugen Jehovas“ (Detlef Garbe).

Unpolitischer Alltag?

Ergänzt wird das Kompendium durch einen umfangreichen biographischen Anhang. Hier findet man Informationen zu namhaften oder gänzlich unbekannten WiderstandskämpferInnen. Ihnen vorangestellt sind zehn Überblicksartikel, die Bekanntes in kompakter Form solide zusammentragen. Dafür bürgen die Namen der einschlägig ausgewiesenen AutorInnen: Die Leiterin der KZ-Gedenkstätte in Dachau, Barbara Diestel, schreibt über den „Widerstand der Verfolgten“, der Historiker Hans Mommsen widmet sich dem „bürgerlich-nationalkonservativen Widerstand“, Patrik von zur Mühlen schließlich befaßt sich mit „Exil und Widerstand“. Zentrale Themengebiete wie der militärische, kommunistische oder sozialistische Widerstand werden privilegiert behandelt, da ihnen eine übergeordnete Bedeutung zukommt.

Die Qualität dieser Übersichtsartikel ist recht unterschiedlich. In seinem Aufsatz über den Widerstand gegen die nationalsozialistische Bewegung vor 1933 liefert Wolfgang Benz nichts anderes als eine Nummernparade von Personen, Organisationen und deren Publikationen. Erstaunt müssen wir zur Kenntnis nehmen: „Zwangsläufig endete öffentliche Opposition gegen die um die Macht ringende NSDAP am 30. Januar 1933 mit der äußeren und inneren Emigration, also der Flucht aus Deutschland oder dem schweigenden Rückzug ins Unpolitische.“ Das ist gut gemeint, aber schlecht gedacht. Die Überzeichnung staatlicher Kontrollen verschließt bei Benz den Blick für die Gemengelage aus stummer Distanzierung, Mitmachen und „Sehen-daß-man- irgendwie-durchkommt“. Die Eigenverantwortung des einzelnen bei der Unterdrückung von Minderheiten und „Andersartigen“ wird damit negiert. Der Gegensatz von öffentlicher Opposition und unpolitischer Alltagssphäre ist konstruiert.

Überhaupt fällt in einigen Aufsätzen die Mythologisierung der Geheimen Staatspolizei unterm Hakenkreuz als allmächtigem Überwachungsapparat auf, vor allem wenn es um den politisch motivierten, d. h. sozialistischen und kommunistischen Widerstand geht. Entgegen der Legende einer flächendeckend agierenden Polizeitruppe haben neuere sozialgeschichtliche Studien gezeigt, daß die Gestapo eine reagierende Behörde war, eine Kontrollinstanz, die häufig erst durch Denunziationen aus der Bevölkerung tätig wurde. Hier belegt Christl Wickert in ihrem Beitrag über „Frauen und Widerstand“, daß Geschlechterdifferenzen noch bis in die Anklageschriften der Gestapo reichten. Meist gelang es den Frauen, ihre Teilnahme an oppositionellen Veranstaltungen als zufällig und sich selbst als von Männern überredet darzustellen. Solche durchweg gelungenen Passagen haben in einem Lexikon dennoch den Nachteil, daß Einzelaspekte isoliert und ohne Bezug zu strukturellen Ähnlichkeiten wie Unterschieden anderer Gruppen bleiben.

Lexika als Ultima ratio?

Nichtsdestotrotz haben die Herausgeber gut daran getan, von einem weiten Widerstandsbegriff auszugehen, wenngleich es zwischen den AutorInnen erhebliche Differenzen der Begriffsdefinition gibt. Eine umfassende Geschichte des deutschen Widerstandes kann nur dann geschrieben werden, wenn dies die Analyse von Dissens und Verweigerung im Alltag miteinschließt, die Edelweiß-Piraten, die ideologische Affinität vieler nationalkonservativer Verschwörer zum Nationalsozialismus oder die politische Verblendung der Kommunistischen Partei. Nichts davon kann allein stehen.

Dabei verspricht der Blick auf die Männer des 20. Juli, auf Weiße Rose und Rote Kapelle ein Thema von politischer Aktualität und Brisanz. Für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft war das Andenken an den nationalkonservativen Widerstand, an Kreisauer Kreis und Stauffenberg seit den 60er Jahren identitätsstiftend. In der DDR wurde der Arbeiterwiderstand heroisiert. Hierzulande erfuhr er lange Zeit keine Anerkennung. Historisierung und Mystifizierung lagen nah beieinander. Und der Gegenstand polarisiert noch immer. Die Kontroversen um die große Ausstellung in der Berliner Gedenkstätte deutscher Widerstand, die Distanzierung vom kommunistischen Widerstand durch Verteidigungsminister Rühe Ende 1993 im Bendlerblock waren und sind keine Ausnahme.

Jede Religion, schreibt der amerikanische Medienwissenschaftler Harold A. Innis, organisiert über eigene Techniken die Vergangenheit. Sie dienen dazu, politische Räume zu vereinheitlichen und zusammenzuhalten. Das „Lexikon des deutschen Widerstandes“ gehört in diese Reihe von Bemühungen, sich den Gesetzen der Informationsgesellschaft zu unterwerfen. Über die Struktur solcher Art von Wissensvermittlung, weniger über seinen Informationsgehalt, muß gestritten werden.

Wolfgang Benz und Walter H. Pehle (Hrsg.): „Lexikon des deutschen Widerstandes“. S. Fischer Verlag, Ffm 1994, 429 S., 48 DM