■ Ein weiteres Mal erklingt „nach Magdeburg“ der rituelle Ruf, die bestehenden Strafgesetze zu verschärfen
: Die untätigen Beamten müssen zur Rechenschaft gezogen werden!

Seit Hoyerswerda wird sie begangen, diese Zeremonie der rituellen Reinwaschung des Gewissens von schuldhafter Untätigkeit. Auf jede ausländerfeindliche Hatz folgt die obligatorische Beschwörungspredigt in Bonn: die Götter-Politiker möchten doch endlich Erlösung schicken: schärfere Gesetze zur Einkerkerung des braunen Geistes, aber auch zur Bekämpfung manch anderen Unbills jeglicher Art. Gestern hat der Innenausschuß des Bundestages das Ritual pflichtgemäß wieder eingeläutet. Dabei zeigen die „Vorkommnisse“ von Magdeburg anschaulich wie selten zuvor, daß auch der noch so laute Ruf nach schärferen Gesetzen keine Absolution erteilen kann.

Magdeburg ist das Paradebeispiel dafür, daß nicht die Gesetze das Problem sind, sondern ihre Hüter. Unfähige, überforderte, augenzwinkernd-kumpanierende Polizisten haben agiert, als ob man gleich büschelweise Seiten aus dem Strafgesetzbuch gerissen hätte. Schlimmer noch – ihre Vorgesetzten, allen voran ihr Innen- und Justizminister Remmers aus dem Westen, haben im nachhinein das Vorgehen gedeckt. Gedeckt mit Argumenten, die entweder von geistiger Beschränkheit zeugen oder aber von politischer Böswilligkeit.

Ein Polizeipräsident, der die Hetzjagd vom „Herrentag“ auf „Alkohol und Sonnenschein“ zurückführt, müßte – der eigenen Logik zufolge – die Einsatzstärke seiner Mannen künftig nach der Wettervorhersage bestimmen. Ein solcher Mann hat im Amt nichts zu suchen. Und ein Innen- und Justizminister, der die Freilassung der ursprünglich Inhaftierten damit rechtfertigt, es sei kein konkreter Tatnachweis vorhanden, deshalb habe man den Haftrichter gar nicht erst bemüht, der sollte ins dritte Semester Jura zurückversetzt werden. Mit einiger Verspätung werden – hoffentlich – aus ihrem Dämmerschlaf erwachte Staatsanwälte zeigen, daß etliche Tatbeteiligte natürlich auch mit den schon geltenden Gesetzen hinter Gitter zu bringen sind. Nur hat man ihnen jetzt von Staats wegen einen mehrtägigen Fluchtvorsprung gelassen. Der Umgang mit Protestaktionen, Demonstrationen, Versammlungen von links führt doch das ganze Paragraphenarsenal ständig vor: unerlaubte Ansammlung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Präventivfestnahmen und Einkesselungen zum Schutz der allgemeinen Sicherheit und Ordnung, Landfriedensbruch. Nur wer meint, der Frieden eines Landes wäre nicht gebrochen, wenn man Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft durch die Straßen hetzt, sucht da vergeblich nach einer ausreichenden Handhabe für einen Haftbefehl. Den endgültigen Tatnachweis muß ohnehin erst ein Gericht erbringen.

Statt nach schärferen Gesetzen für Gewalttäter zu rufen, sollte man eher über eine schärfere Gangart gegenüber Gesetzeshütern nachdenken, die unwillig sind, ihrer Pflicht zur Strafverfolgung nachzukommen; wo der Staat das Gewaltmonopol für sich beansprucht, muß er auch garantieren, daß dieser Anspruch erfüllt wird. Es kann nicht angehen, daß quer durch die Republik, von Rostock über Fulda bis Magdeburg, jeder Polizeipräsident und Einsatzleiter einmal ein Freispiel hat vor der rechten Kulisse. Bei Generalproben kann man sich alle erdenklichen Fehler leisten, da stehen die geschundenen oder ermordeten Opfer auf der Bühne wieder auf. Auf deutschen Straßen nicht.

Warum also nicht fordern, daß die ja existierende Strafandrohung gegen absichtsvoll ermittlungsfaule oder -unwillige Beamte, die Strafverteitelung im Amt, endlich auch in der Praxis angewandt wird? Warum darüber hinaus nicht auch über zusätzliche rechtliche Instrumente nachdenken, die man den Bürgern und Opfern gegen diejenigen in die Hand geben kann, die ihre Verantwortung fehlerhaft oder fahrlässig wahrnehmen? Nach wie vor wird dieses oft lebensbedrohende staatliche Versagen allenfalls amtsintern geprüft, von Kollege zu Kollege. Schlimmstenfalls kommt eine Amtsversetzung dabei heraus, ein Strafprozeß oder eine Schmerzensgeldzahlung so gut wie nie. Und warum nicht auch stärker Mitläufer, Gaffer und Wegschauer zur Verantwortung ziehen? Schließlich gibt es den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. In der Magdeburger Fußgängerzone, dem Schauplatz der Barbarei, waren Passanten, Kaffeetrinker und Eisesser in der deutlichen Mehrheit. Wer aus einer Menge heraus Gewalttaten verübt, wird besonders bestraft. Warum nicht auch, wer aus einer Menge heraus Gewalt nicht verhindert? Vera Gaserow