Allen Versuchen, die eigene Fehlleistung schönzureden, zum Trotz: Das Versagen der Einsatzleitung der Polizei anläßlich der Ausländerhatz vom 12. Mai in Magde- burg war ein klassischer Fall von Nichtwollen. Aus Magdeburg Michaela Schießl

Schutzbehauptungen, um Polizeiführung zu decken

Die Rechtfertigungsversuche des sachsen-anhaltinischen Innen- und Justizministers Walter Remmers (CDU) zu dem umstrittenen Polizeieinsatz am Himmelfahrtstag in Magdeburg werden immer hanebüchener: Seine Erklärung, man hätte die polizeilichen Videotrupps bewußt nicht eingesetzt, um die Lage nicht eskalieren zu lassen, ist eine reine Schutzbehauptung. Das geht aus dem erweiterten Polizeibericht hervor, der dem Innenausschuß des Landtags von Sachsen-Anhalt vorgelegt wurde. Dort ist dokumentiert, daß die Einsatzleitung erst eine Stunde und zwanzig Minuten nach Beginn der Ausländerhatz vom 12. Mai überhaupt auf die Idee kam, Dokumentationstrupps zu bestellen. Doch nicht einmal zu diesem späten Zeitpunkt, um 16.50 Uhr, konnte sie sich zu einem Vorgehen durchringen: „Vom Einsatz vor Ort wurde unter Berücksichtigung der Bedingungen dieses Einsatzes Abstand genommen.“

Wenige Tage nach den Magdeburger Ereignissen versuchte Remmers, diese Fehlentscheidung schönzureden: „Diese Trupps zu jedem Einsatz zu bringen würde uns a) überlasten und b) werden auch bei größeren Auseinandersetzungen die Videokameras immer selbst zu Gegenständen von gewaltsamen Angriffen“, sagte er der Neuen Zeit.

Vor zwei Monaten erst hatte der Innenminister andere Worte gefunden. Am 24. März rechtfertigte er in einer Landtagsdebatte den Einsatz von Videotrupps gegen harmlose Bürger des Dorfes Belleben. Die hatten am 3. März eine angemeldete, zehnminütige, symbolische Straßenblockade durchgeführt, um gegen den Schwerlastverkehr durch ihren Ort zu protestieren. Unversehens sahen sich die 200 Demonstranten 36 gummiknüppelbewehrten Polizisten, Kriminalbeamten in Zivil, Hundestaffeln und dem Videotrupp gegenüber. „Beweissicherungsmaßnahmen müssen wir immer dort vornehmen, wo es zu Straftaten kommt“, befand Remmers. „Ich halte die Benutzung einer Videokamera in Deutschland eigentlich überall für zulässig, auch aus Anlaß solcher Einsätze.“

Auch das von Remmers im Januar eingebrachte „polizeiliche Konzept zur Bekämpfung des politischen Extremismus und fremdenfeindlicher Straftaten“ sieht vor: „Der Einsatz von Beweissicherung und Dokumentation ist zu gewährleisten.“ Außerdem sollte das zu bildende Mobile Einsatzkommando-Staatsschutz (MEK) des Landeskriminalamtes (LKA) „baldmöglichst, spätestens jedoch bis zum 30. April 1994“ einsatzbereit sein. Auch hier war Papier geduldig – von einem Mobilen Einsatzkommando ist im Polizeibericht nicht die Rede.

„Wo waren die Einsatzhundertschaften der Bereitschaftspolizei Magdeburg, wo waren die Mobilen Einsatzkommandos und Sondereinsatzkommandos, die im einzelnen im polizeilichen Konzept werbewirksam aufgezählt sind?“ wetterte Manfred Püchel, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, in der Landtagsdebatte am letzten Donnerstag und forderte Remmers' Rücktritt. Der Innenminister schwieg verlegen. Zuvor hatte er dem Innenausschuß die Diskrepanz zwischen Umsetzung und Konzept mit den „bewußt hohen Maßstäben“ erklärt, „die nicht in jedem Falle einzuhalten“ seien. Püchel: „Das Konzept war bis hin zu Stellenausschreibungen konkret. Man hätte es nur wollen müssen.“

Ein weiterer Fall von Nichtwollen ist der Umgang der Polizei mit den Informationen des Verfassungsschutzes. „Mit dem Landesamt für Verfassungsschutz ist vertrauensvoll zusammenzuarbeiten“, heißt es im Konzept. Daß es an Himmelfahrt zu Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken kommen sollte, teilte der Verfassungsschutz angeblich einen Tag zuvor der Polizei mit.

Aber nichts geschah. „Sonst bekommt der Verfassungsschutz seine Infos nur aus der Zeitung. Jetzt hat er sie mal woanders her, und dann glaubt ihm keiner“, stöhnte Hans-Jochen Tschiche, Sprecher der Landtagsfraktion Bündnis 90/Grüne, während der Debatte im Magdeburger Landtag. Tschiche, dessen Antrag auf Einleitung disziplinarischer Maßnahmen mit nur einer Stimme scheiterte, sitzt in der Kontrollkommission für den VS. Sein Urteil: Der Verfassungsschutz wird nicht ernstgenommen. Ein Verdacht, der sich angesichts der Telefonprotokolle zwischen Verfassungsschutz, Lagezentrum und Polizeidirektion einen Tag vor den Ausschreitungen bestärkt (siehe Kasten auf dieser Seite).

Sozialarbeiter Roland Krauße von KNAST (offene Jugendarbeit der evangelischen Kirche), bezweifelt, daß der VS erst am Vortag von der Sache Wind bekam. „Vielleicht sind das Schutzaussagen, um die Polizei zu decken. Fest steht, daß wir bereits eine Woche Bescheid wußten, und die Antifaschisten von Bandierra Rossa am Montag.“

Werbekampagne zur Strafgesetzverschärfung

Geradezu verdächtig kommen Krauße die zahlreichen Versäumnisse der Polizei vor. „Die Ausschreitungen sind doch ein Hauptgewinn für Remmers: die Werbekampagne zur Strafgesetzverschärfung.“

Da wo sie sein sollte, ist in Magdeburg von der Polizei nichts zu sehen. Als aber kürzlich Sozialarbeiter Krauße mit Punks ein Lagerfeuer im Park veranstaltete, war sie sofort zur Stelle: Beamte des Sondereinsatzkommandos fuhren im Auto vorbei. „Einer oder zwei haben ,Sieg Heil‘ gebrüllt und den Hitlergruß gemacht“, so Krauße.

Ministerpräsident Christoph Bergner (CDU) stellt sich trotz all der Vorwürfe hinter seinen Innenminister und nennt die Rücktrittsforderungen „absurd“ und „lächerlich“. Remmers wiederum stellt sich hinter seinen Polizeipräsidenten Antonius Stockmann. Stockmann seinerseits müht sich, Polizeichef Johann Lottmann zu decken, der am fraglichen Tag höchstpersönlich um exakt 18.55 Uhr im Einsatzraum eintraf und das Heft in die Hand nahm.

Aussitzen heißt die Taktik der drei Verantwortlichen. Schließlich war am Freitag die offiziell letzte Landtagssitzung vor den Neuwahlen, und ein Untersuchungsausschuß wurde nicht eingesetzt. Daß den Verantwortlichen nun keinerlei disziplinarische Maßnahmen drohen, hält Roland Claus, PDS- Fraktionsvorsitzender, für reine Wahltaktik: „Die Landes-CDU setzt ihre Hoffnungen offenbar auf diejenigen Wählerinnen und Wähler im rechten Spektrum, die ,ein bißchen Fremdenfeindlichkeit‘ durchaus tolerieren.“