■ Am Sonntag votiert Österreich über den Beitritt zur EU
: Mittelmacht oder germanischer Rand?

Österreich sei, so hat Christian Friedrich Hebbel einst geistreich vermerkt, jene kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Doch ob das, was für das Habsburgerreich galt, auch die kleine Republik beschreibt? Was ist Österreich? Der Nabel der Welt? Oder eher doch der Blinddarm Europas? Schon über die Frage, ob es den Österreicher denn überhaupt gebe, läßt sich trefflich streiten. Als die Monarchie noch existierte, war er ein Phantom: „Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung“, wußte Robert Musil. Und als das Kaiserreich dann zerfiel, war die Bestimmung zuallererst eine negative: „Österreich ist das, was übrigbleibt“, meint Georges Clémenceau.

So nimmt nicht wunder, daß in den achtziger Jahren, als das unbestimmte Wort von der „Identität“ allerorten in Mode kam, es vor allem zwischen Neusiedler- und Bodensee en vogue war. Denn für ein veritables „Nationalgefühl“ wollten die in sich oft wenig schlüssigen Vorstellungen vom „Österreichertum“ nicht ausreichen. Allein zu einer Identität rang man sich durch, spät zwar, aber immerhin.

Die Österreicher, das ergab eine brandheiße Untersuchung, haben im übrigen eine recht klare, den Tatsachen nahekommende Vorstellung davon, wie sich ihre „Identität“ entwickelt hat. Daß es bereits vor 1938, dem Jahr des „Anschlusses“ an Nazi-Deutschland, ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein gegeben habe, glauben gerade 24 Prozent. 23 Prozent meinen, dieses habe sich in den Jahren nach 1945 entwickelt, als die weithin verbreiteten pangermanischen Aspirationen gründlich diskreditiert waren. Weitere 26 Prozent tippen auf das Jahr 1955, als die Alliierten abzogen und Österreich seine volle Souveränität zurückerlangte. 16 Prozent urteilen, erst seit den 70er Jahren habe sich eine österreichische Identität entwickelt.

Kaum daß sie sich in ihrem kleinen Haus eingerichtet haben, sollen die Österreicher nun wieder umziehen. Setzen sich die Regierungsparteien mit ihrer Empfehlung durch, werden sie ab dem 1.1.1995 in der großen europäischen Villa Heimstatt nehmen. Doch in dieser, so fürchten manche, könnte die zarte Pflanze des sprießenden Nationalgefühls wieder verdorren. Diese Skepsis wird auch noch durch die allgemein menschliche, besonders aber österreichische Grundhaltung bestärkt, den jeweils aktuellen Zustand zum bestmöglichen zu verklären.

Jörg Haider, der Alpenrepublik großer rechter Populist mit beträchtlicher Sensibilität für Stimmungen und Ängste der kleinen Leute, verbannt seine Parolen von gestern ins Museum und schlägt plötzlich andere Töne an. Hatte er vor ein paar Jahren noch deutschtümelnd erklärt: „Die österreichische Nation ist eine ideologische Mißgeburt“, so läßt seine „Freiheitliche Partei“ (FPÖ) heute plakatieren: „Wir schützen Österreich.“ Bei der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur EU am 12. Juni empfiehlt er den Österreichern, mit „Nein“ zu stimmen. Und obwohl die beiden großen Regierungsparteien, Sozialdemokraten und die christdemokratische ÖVP, obwohl der Bundespräsident sowie praktisch alle moralischen Autoritäten des Landes für ein „Ja“ mobilisieren, zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab.

Meinen die EU-Apologeten, das Land dürfe den Anschluß an den großen Markt nicht verpassen, wenn es seine wirtschaftliche Dynamik nicht verlieren wolle, so verweisen die EU-Gegner auf die niedrigere Arbeitslosenrate Österreichs und die Qualität der heimischen Milch; preist die Regierung die Brüsseler Gemeinschaft als Nukleus eines Systems kollektiver Sicherheit, so beten die Beitrittsskeptiker für die „immerwährende Neutralität“, die in Verfassungsrang erhobene Bündnisfreiheit; verkaufen die Pro-Europäer die Brüsseler Gemeinschaft als Modernisierungsprojekt, dem sich Österreich nicht entsagen sollte, so fürchten die Alpen-Patrioten ums Überleben der Zuckerrüben-Bauern; locken die Experten der Befürworter mit dem Preis von Euro- Joghurt, so kontern die der Gegner mit dessen giftigen Ingredienzien; und spricht die Regierung von der Notwendigkeit gesamteuropäischer Lösungen, so hören die Kämpfer wider die EU den ohrenbetäubenden Lärm endloser LKW-Kolonnen, die auf Alpen- Transit durch Tirol rollen. Außer der FPÖ empfehlen als einzige der im Parlament vertretenen Parteien die „Grünen“, mit „Nein“ zu stimmen.

Doch neben all diesem Für und Wider geht es um Wesentlicheres, um Welt-Anschauungen im eigentlichen Wortsinn, um die Frage: Was ist, wo ist Österreich? Wohin soll es sich wenden? Wenn Österreich der östlichste Zipfel des Westens ist, dann darf es sich – das folgt aus der Regierungsargumentation – dem Integrationsprozeß seiner ureigensten Partner nicht verschließen. Oder aber es will alte mitteleuropäische Träume hegen, die Rolle der „Brücke zwischen Ost und West“ auch unter den veränderten Bedingungen schlagen, was im Kalten Krieg, die aufgezwungene Neutralität positiv umdeutend, ja zur Staatsdoktrin erhoben worden war: Dann gilt es, die Ungebundenheit um jeden Preis zu verteidigen.

Tatsächlich wird Österreich größer und größer. Denn wann immer ein Land im mitteleuropäischen Umfeld zerbricht, wächst Österreich. Gegenüber den neuen Republiken der Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten nimmt sich Österreich wie ein bedeutendes Land aus. Gegenüber den krisengebeutelten Mini-Republiken – allesamt übrigens Nachfolgestaaten der Donau-Monarchie – fühlt man die vermeintliche eigene Stärke doppelt.

In diesen nostalgischen Chor hat unlängst der norwegische Friedensforscher Johan Galtung eingestimmt, der den Österreichern empfahl, sie sollten lieber „gesamteuropäische, kooperative Träume träumen“, anstatt „als Grenzprovinz“ und „germanischer Rand“ in die Europäische Union zu drängen. Sie sollten, schmeichelte er, „dieses seltsame österreichische Phänomen, den Widerspruch als Lebensstil, als Geisteshaltung“ kultivieren – „gleichzeitig dabei und außerhalb“ sein.

Liest man Galtungs Text nicht als politisches Programm, sondern als Diagnose – somit quer zu den Intentionen des Autors – muß man ihm bescheinigen, die Grundstimmung der Bevölkerung ziemlich exakt getroffen zu haben. Tatsächlich sind die Österreicher am liebsten dabei und trotzdem außerhalb. Wäre es ihnen erlaubt, für den Integrationsprozeß und gleichzeitig für die alte österreichische Gewerbeordnung, für den freien Markt, aber gegen den Transport der Güter durch die Alpen, für den freien Personenverkehr, aber gegen den Zuzug Fremder nach Österreich zu stimmen – sowohl den Befürwortern wie den Gegnern eines EU-Beitrittes wäre eine satte Mehrheit gewiß. Letztlich dürften freilich Ängste entscheiden. Der Angst vor den Folgen eines Beitritts steht die Angst vor den Folgen eines Nicht-Beitritts gegenüber.

Welche am Ende stärker wiegt? wir wissen's am 12. Juni, um 18 Uhr. Robert Misik

Deutschland-Korrespondent des österreichischen Nachrichtenmagazins „Profil“