Schöne, kecke Männerbrüste

In Miami Beach sind die Homos so begehrenswert wie die Heteros immer sein wollten  ■ Von Marc Fest

Aufregend! In Miami Beach im US-Bundesstaat Florida gibt es für Schwule viel zu sehen und noch mehr zu tratschen. Zum Beispiel über die hiesige Villa des italienischen Modeschöpfers Gianni Versace: von opulenten Festen, ausschweifenden Vergnügungen, hemmungslosen Orgien ... Und wie auf einem Laufsteg flanieren die schwulen Debütanten tagsüber mit entblößten und durchtrainierten Oberkörpern an dem geheimnisumwobenen Bauwerk vorbei – der Meister könnte ja im Hause sein. Und gerade aus dem Fenster gucken. Und, höchste aller Weihen, sie „entdecken.“

Inmitten der pastellfarbenen Art-deco-Gebäude wirkt der Mini- Medicipalast des Modepapstes indes unpassend wie Roman Herzog auf dem Tuntenball. Ein kolossaler Stilbruch direkt am Ocean Drive, der eitlen Hauptpromenade von Miami Beach. Und beäugt wie der heilige Homo-Gral. Daß allerdings selbst Eingeborene in dem Vorgarten ab und zu lediglich einen buckligen Gärtner sichten, der mit Akribie die Triebe auf den Hecken stutzt, tut den Gerüchten keinen Abbruch.

Paradox: Noch vor zehn Jahren war Miami Beach das heruntergekommene Altersheim der USA: verwahrloste Heimstatt für mittellose Pensionäre, kriminelle Crack- Junkies und Dealer. Bis die Investoren kamen. Mit den Homos als Trendsettern im Schlepptau.

In den zehn Jahren von 1980 bis 1990 schoß der Altersdurchschnitt der 95.000 Einwohner von 67 auf fast jugendliche 44,5 Jahre nach unten. Wo die Alten und die Outlaws geblieben sind, danach fragt niemand. Besonders der untere Zipfel der Insel, sprich South Beach, mutierte im Zuge dieser radikalen Verjüngungskur vom Slum zu einer Realkulisse für die Welt des schönen Scheins; und die Schwulen spielen in diesem Beauty-Kosmos mit Hingabe die Statisten – und das perfekt.

Wer sich hineinwagt in diese schöne schwule Welt, dem stechen zunächst die Brustwarzen ins Auge: allenthalben strecken sie sich dem Betrachter entgegen, keck hochgereckt auf sagenhaft gewölbten Männerbrüsten, von Kennern auch „pecs“ genannt: Miniaturmonumente auf lauter kleinen Feldherrenhügeln.

Schönheit oder das, was Mode, Film und Werbung als solche definieren, ist südlich der Zwanzigsten Straße von Miami Beach die Norm. Und ausgerechnet die Schwulen von South Beach verkörpern diese Norm so perfekt, wie die meisten Heteros es mangels Ehrgeiz niemals könnten – denn wer schuftet schon freiwillig drei Stunden täglich im Fitneßstudio? Oder hat die Zeit dafür? Oder die notwendige Profilneurose?

Die heterosexuellen „Stinknormalen“ kommen regelmäßig mit Bussen aus den nördlich gelegenen Touristenhotels wie dem „Fontaine Bleue“ – und begaffen durch die Fenster fassungslos jene Menschen, die so schön und jung und kräftig sind, wie sie selbst es gerne wären.

Angesichts von so viel Schönheit stellt sich die Frage nach dem Kriterium der Differenz: Was entscheidet über den Erfolg beim Balzen am Beach, wenn jede Brust und jeder Bizeps gleichermaßen prall ist? Hebt sich all die Schönheit gar gegenseitig auf?

Manch schwules Dickerchen denkt in seiner Not da gerne um drei Ecken: „Ich bin zwar nicht so gut gebaut, dafür aber immerhin anders als alle anderen und somit auch wieder attraktiv. Irgendwie.“ Leider gefehlt! Denn das Prinzip der Knappheit versagt auf dem schwulen Markt der Schönheit. Unter den Homos gilt auch für wohltrainierte Titten: Gleich und gleich gesellt sich gern.“ Wer nicht ganz so viel zu bieten hat, sollte deshalb eine professionelle Beta- SP-Fernsehkamera (ab 50.000 Mark) im Gepäck mitführen – denn nichts zieht die Blicke schneller an, läßt die Hüllen schneller fallen und die Matratzen quietschen. Mit der Beta-Cam auf der schmalen Schulter kann sich selbst ein ungebräunter Flachbrüstiger mit Haarausfall und schiefen Zähnen am Schwulenstrand der Zwölften Straße höchster Aufmerksamkeit gewiß sein. Er könnte ja von MTV sein. Oder CNN. Oder – mein Gott, nicht auszudenken! – einen neuen Werbespot für Versace drehen.

Gleich unterhalb der Beta-SP rangiert ein professioneller Photoapparat von Nikon, Canon oder, noch besser, Hasselblad. Wer mit einer solchen Edellinse vor dem Gesicht platt auf dem Ocean Drive liegt, knappe Kommandos ruft und heftige Verrenkungen aufführt und ein in Grunge-Lumpen gekleidetes Model auf Rollschuhen ablichtet, hat ebenfalls gute Chancen, als Starphotograph eingestuft zu werden – und ergo seinerseits abgeschleppt, angemacht oder zumindest photographiert zu werden.

Überhaupt ist das Photographieren oder Filmen von Menschen, die photographieren oder filmen, wie jemand einen photographiert oder filmt, der wiederum einen anderen photographiert oder filmt, ein in South Beach sehr verbreitetes Phänomen – und immer ein Photo wert.

In diesem Spiegelkabinett der Eitelkeiten lassen sich die Schwulen nach diversen Veranlagungen sortieren: Da ist zunächst der gewöhnliche Besucher, der Homo homo touristicus. Der kommt, kopuliert und geht nach zwei Wochen. Dann gibt es jene, die sich „Models“ nennen, anzutreffen tagaus, tagein an derselben Stelle des schwulen 12th-Street-Beach. Allerdings nur so lange, bis sie der pager an ihrer Badehose (die allgegenwärtige US-Version des Euro- Piepsers) hochreißt: „Oh, that's my agency“ – hastiger Abschied vom kollektiven Rösten. Angepiepst werden diese sogenannten Models allerdings häufig nicht von ihren Agenturen sondern von einem Freier.

Ferner sind da die, die in South Beach hängengeblieben sind. Sie nennen sich gerne „Manager“. In Wirklichkeit sind sie in der Regel Vertreter des WHAMER-Typus (sprich: „wämer“). Whamer ist ein Akronym für „Waiter-Actor-Entertainment-Retail“ – also jene vier Branchen (Gastronomie, Film, Unterhaltung, Einzelhandel), in denen der schwule „Manager“ am häufigsten beschäftigt ist. In der Regel als unterbezahlte und illegale Aushilfe.

Alle Typen vereinigen sich letztendlich jeden Abend in den monumentalen Diskos, als da wären das „Amnesia“, das „Paragon“, das „Kremlin“ das „Warsaw“ und das „Twist.“ Wer nicht gerade eine Beta-SP-Kamera geschultert hat, muß schon mal eine halbe Stunde anstehen. Eingekehrt in die Tanzhallen, wird er dann, wie auch in New York, Amsterdam oder Paris, mit dem Anblick von Solotänzern belohnt, die zu Tekkno oder HipHop den oft beachtlichen Inhalt ihrer halbtransparenten Satin-Shorts hin und her schütteln. Unlängst im Paragon knetete ein Solotänzer sein überdimensionales Glied im Rhythmus der Musik so heftig, daß nur sein ausnehmend unattraktives Gesicht ihn vor unkontrollierten Übergriffen der Tanzenden bewahrte.

Nach den Ekstasen der Nacht erscheint der Ocean Drive morgens um acht Uhr unnatürlich ruhig. An seinem südlichen Ende fordert ein Verkehrsschild „No Cruising“. Unerwünscht ist natürlich das eitle Hinundherparadieren von Luxuscabriolets – und nicht etwa das ebenfalls als „Cruising“ bekannte sexuelle „Hasch-mich“- Spiel der Schwulen. Würde letzteres jemals verboten, wäre der Boom von South Beach vorbei. Denn wozu dann noch makellos und schön sein? Versace hin, Versace her.