Von allen Seiten umstellt

Auf der Suche nach einer Poesie der Übertretung: Pasolinis nachgelassenes Roman-Fragment „Petrolio“  ■ Von Harald Fricke

Wie Rätsel gehen einem Gegensätze nur selten aus dem Sinn: Die rasende Geschwindigkeit, in der Pasolini bis zuletzt produzierte, und sein plötzlicher gewaltsamer Tod in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 haben nichts miteinander gemein und ergänzen sich doch besser als die über 200 Fragmente von „Petrolio“.

2.000 Seiten hatte Pasolini für den zweiteiligen Roman eingeplant, den er in einem Interview mit der Stampa Sera schwergewichtig als sein Lebenswerk beschrieb. Als Literat trat er zur selben Zeit jedoch in der Öffentlichkeit allein mit kurzen Zeitungsessays und Polemiken auf. War das Roman-Projekt nur eine literarische Grille? Ablenkung von der total durchorganisierten Arbeit im Film-Team?

Noch im Frühjahr 75 hatte Pasolini neben seiner Arbeit an „Die 120 Tage von Sodom“ Texte im Corriere della Sera veröffentlicht, hauptsächlich Polemiken gegen die Sexualpolitik der Kirche und die Staatskorruption Andreottis. Beides galt ihm als Beleg für die Kontinuität des Faschismus unter der Christdemokratie. Auf der anderen Seite sah Pasolini sich zudem einem wachsenden „Linksfaschismus“ ausgesetzt: „Viele Katholiken bringen, wenn sie Kommunisten werden, den Glauben und die Hoffnung mit und vernachlässigen, ohne es überhaupt zu merken, die Nächstenliebe. Genau so entsteht der Linksfaschismus.“ Pasolini, Katholik und Kommunist, sah sich in einer hedonistischen Konsumgesellschaft, die sich mit klerikalen Positionen arrangierte, von allen Seiten bedroht. „Petrolio“ sollte ein Kampf an beiden Fronten zugleich werden. Dementsprechend zerrissen geriet denn auch der Roman.

Gleich zu Anfang geschieht mit Carlo, der Hauptfigur, eine wundersame Spaltung. Nach seinem Tod steigen zwei Seelen aus seiner Brust. Die Götter lassen ihn als guten, d.h. folgsamen Menschen wiederauferstehen, während die andere Hälfte noch ein zweites Mal sein lasterhaftes Wesen durchlebt. Das Böse ergeht sich in Ausschweifungen, der Idealist Carlo sucht nach der politischen Utopie und endet in der Maschinerie der Macht. Beim Versuch, „heilig zu werden“, muß er erkennen, daß „diese Heiligkeit ein Geschenk des Teufels war“. Im Zentrum der antifaschistischen Gesellschaft angelangt, erweist sich für Carlo I. einzig deren Realpolitik, ein Bündnis mit den Faschisten, als logische Überwindung der „historischen Situation“ – gegen den irrationalen „Terrorismus der Subkultur“, die Bombenattentate der Neofaschisten in Brescia und die Entführungen der „Roten Brigaden“.

Die Lage ist hoffnungslos, zumal durch die versteckten Interessen des Kapitals unterwandert. In „Petrolio“ ist der Erdölhandel bloß ein vorgeschobener Kriegsschauplatz: Die neuen Kommunikationstechniken dagegen sind der eigentliche Grundpfeiler des Imperiums der in den ersten Kapiteln beschriebenen Familie Troya: „Programmierung und Dienstleistung für die Erforschung/Sammlung von Daten, Bearbeitung und Verbreitung der Information, Beratung und Dienstleistungen für die elektronische Datenverarbeitung.“ (Wenigstens in diesem Punkt ist Pasolinis Einschätzung zeitgemäß. Er reagiert auf die gewandelte Fernsehkultur Italiens, die Anfang der siebziger Jahre zunehmend die Aktionen radikaler Gruppen bestimmte. Manchmal auf kuriose Weise: Der Journalist Marco Panella etwa trat 1974 in einen Hungerstreik für das Scheidungsgesetz. Eine seiner Forderungen war 20 Minuten Sendezeit im Fernsehen, um seine antiklerikale Haltung zur Ehe darlegen zu können.)

Kaum anders erscheint das Schicksal der dunklen Seite des zweiten Carlo-Modells. Er übertritt sämtliche sexuellen Tabus, schläft mit der Mutter, der Großmutter und versucht sich an den Schwestern; exhibitioniert und wichst sich ununterbrochen, und wird so ganz Geschlecht. Doch gerade die Konsequenz der Ausschweifung fördert einen Mangel zu Tage: Zur absoluten Freiheit des Sexes fehlt die/der Andere. Carlo muß Frau werden. Pasolini konstruiert eine homosexuelle Schein-Travestie – als negativen Horizont der Selbsterfahrung. Die Inversion folgt einer Strategie, die der Biographie des Dichters entspricht. Zu offensichtlich gelingt die Verwandlung in eine Frau nur mit Masken, um jene „Aufdeckung“ zu verhindern, vor deren Konsequenzen sich Pasolini selber fürchtete. Ohnehin schon stand er im Kreuzfeuer der bürgerlichen Kritik. Seine Position im Streit um die Abtreibung stieß auf totale Ablehnung. Umberto Eco konterte im Il Manifesto vom 21.1.75: Pasolini, der in seinen Filmen „Arschbacken und Brüste“ zeige, wolle eine Gesellschaft, in der eine homosexuelle Mehrheit eine heterosexuelle Minderheit von Sklaven zur Fortpflanzung zwinge, „was weder Huxley noch Orwell, nicht einmal Hitler, geschweige denn Fanfani in den Sinn gekommen wäre“. Es ist absurd, daß der gemäßigte Eco Pasolini, den Kämpfer gegen den Linksfaschismus, des homosexuellen Linksfaschismus bezichtigt.

Der Schwule kann in „Petrolio“ nur als Prostituierte gedacht werden. In einer Tour de Force läßt sich Carlo von 20 jungen Männern auf der Wiese an der Via Casilina 40 Seiten lang ficken, wobei er selbst bezahlt. Für dieses Mal sind alle Götter, heilige und unterirdische, vereint. Sein Doppel (auch er wird vorübergehend zur „Frau“) geht später mit einem faschistischen Kellner ins Bett, der aber auf dem Heimweg von Ungeheuern zerrissen wird.

Das alles erscheint in der Rohfassung loser Entwürfe reichlich verwirrend. Der erzählerische Faden scheint Pasolini schon in der Vorplanung gerissen. Zu sehr klafft Historisches und Aktuelles auseinander, vermengen sich Feuilleton-Debatten und theoretische Exkurse. So bedient sich „Petrolio“ gewagter Stereotypen, um Pasolinis Auseinandersetzung mit Gramscis Thesen über die Aufgaben der Kultur in die Gegenwart hinüberzuretten: etwa wenn in einem Zugabteil die lange Geschichte der Trennung zwischen Intellektuellen und dem Proletariat mit zwei Sätzen ausgetragen wird: „Ein kurzer Blick genügte, der die bloße, schlichte physische Präsenz, den Körper, abtastete, um sie ohne die geringste Möglichkeit eines Irrtums zu unterscheiden. Pasquale, der Mann aus dem Volk, begriff sofort, daß er es mit einem bürgerlichen Intellektuellen zu tun hatte, und der bürgerliche Intellektuelle begriff sofort, daß er es mit einem Mann aus dem Volk zu tun hatte.“

Tiefenlinguistik und simple Beschreibungen des Lebens in der Großstadt, romantisierende Lobreden auf das bäuerliche Leben, Mythen und Materialismus, alles wird unvermittelt nebeneinanderstehend mitgeschleppt. Am Ende bleibt ein poetologischer Scherbenhaufen übrig. Kein Roman, der wie bei Dostojewski die Strukturen miterzählt, sondern eine Theorie des Romans, die Pasolini skizzenhaft auf Handlungen überträgt. Schwankend und schulmeisterlich erklärt er wie ein Literaturwissenschaftler, was vom Text bleibt, wenn man Psychologie und Kapitalismuskritik abgezogen hat. Dabei sucht Pasolini in „Petrolio“ eigentlich nach einer poetischen Sprache der Übertretung.

„In meiner Geschichte – das muß ich brutal deutlich machen – wird die Psychologie gewaltsam durch die Ideologie ersetzt. Der Leser gebe sich also keiner Illusion hin: er wird niemals Figuren begegnen, die sich auf geheimnisvolle Weise entfalten und weiterentwickeln, indem sie sich nach und nach anderen Hauptfiguren und dem Leser zu erkennen geben, wenn der Gang der Ereignisse – die sie auslöschen und zu deren Spielball sie werden – ihnen eine dramatische Kohärenz aufzwingt.“ Dafür nimmt Pasolini in Kauf, seinen Meta-Roman in ein Patchwork von Theoremen zu zergliedern. Das aber wirkt so bemüht wie jedes andere Manifest der siebziger Jahre. Noch den Fin-de-siècle-artigen Salon versucht Pasolini mit Marx zu versöhnen. Beides zusammen ergibt jedoch nicht mehr als einen unendlichen Fußnotenapparat, Anmerkungen, die nur zu Anmerkungen führen. Gerade in dieser Rohfassung ist dieses Konzept so offensichtlich zu durchschauen, daß „Petrolio“ oftmals ins unfreiwillig Komische abgleitet. Da erfindet jemand Figuren, an die er selbst kaum glaubt.

Der Widerspruch im eigenen Leben hat Pier Paolo Pasolini immer wieder zu seinem literarischen Vorbild zurückgeführt: Dante Alighieri, dessen „Göttliche Komödie“ auch in „Petrolio“ bald 100 Seiten lang das Zentrum der ansonsten weit verstreuten und unsteten Handlungsstränge bildet.

Wie in einem sehr irdischen Traum der Renaissance wurde der Dichter des Originals durch die Hölle, über den Läuterungsberg und schließlich ins Paradies geführt. Es ist eine Reise ans Licht, bei der Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden durch den Blick ins Jenseits ausgeräumt werden. Dante will wissen, woran er glaubt, und er beschreibt den langsamen Übergang von der Skepsis zur Gewißheit, von der Hoffnungslosigkeit des ersten Gesanges zur Liebe, die am Ende Sonne und Sterne bewegt. Pasolinis Weg ist derselbe, seine Gewißheit aber ist am Ende eine finstere. Schon die Gesänge zu „La Divina Mimesis“ schließen illusionslos: „Wir gingen nunmehr im tiefsten Dunkel.“ Als das Buch im November 1975 bei Giulio Einaudi in Turin erschien, war Pasolini bereits seit bald zwei Wochen tot.

Pier Paolo Pasolini: „Petrolio“. Roman. Herausgegeben von Maria Careri, Graziella Chiarcossi und Aurelio Roncaglia. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, 720 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, geb., 58 DM