Das Stadion ist zur Kathedrale, der Fernseher zur Höhle geworden

■ Der Krimi- und Kochbuchautor Manuel Vázquez Montalbán zur Ermordung des kolumbianischen Eigentorschützen Andrés Escobar

Der katalanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán, schon als Junge Fan des FC Barcelona, hat in den 70er Jahren eine Erzählung geschrieben, die sich nun – nach der Ermordung des kolumbianischen Eigentorschützen Andrés Escobar – geradezu prophetisch anhört.

Manuel Vázquez Montalbán: In jener Erzählung wurde der Mittelstürmer, der das Tor verpaßt hatte, von der Menge getötet und schließlich von ihr sogar aufgegessen. In der Beziehung zwischen Zuschauern und Fußballern gibt es in der Tat viel Kannibalisches.

War also, was sich in Kolumbien nun zugetragen hat, mehr oder weniger vorhersehbar?

Nein, natürlich nicht. Aber man muß verstehen, welche Bedeutung die Nationalmannschaft für die Kolumbianer hat. Sie glaubten, sie gehöre zu den drei oder vier besten der Welt. Als sie dann aus der WM ausschieden, wurde das Land von einem Schock erfaßt. Denn ein Fußballerfolg hätte Kolumbien jenen positiven Glorienschein verliehen, der das negative Image eines Leaders des internationalen Drogenhandels ein wenig hätte kompensieren können.

Aber in Argentinien hatte die Sperrung Maradonas bloß eine nationale Trauer zur Folge.

Das stimmt. Die Gewalt ist eben eine substantielle Besonderheit Kolumbiens. Nicht einmal ein Nobelpreisträger wie Gabriel Garcia Márquez kann in Kolumbien ohne Leibwächter ausgehen. Nun ist der Fußball zu einer neuen Religion geworden, und diejenigen Länder, die in der internationalen Arbeitsteilung auf der Verliererseite stehen, wie zum Beispiel Argentinien und Kolumbien, klammern sich an die wenigen Gründe für nationalen Stolz, die sie in Reichweite finden. Wenn diese letzte Möglichkeit schiefgeht, entsteht ein schrecklicher Pessimismus.

Ihr Roman scheint sich nun als eine Warnung zu entpuppen.

Ich habe den Kopf einer Fußballmannschaft immer als außerordentlich brüchiges Medium gesehen. Die Zuschauer bringen ihm eine fanatische Liebe entgegen. Sie bewundern ihn, beten ihn an. Aber wehe, wenn er einen Fehler macht. Denn die Zuschauer benützen dieses Medium als Projektionsfläche ihres eigenen Lebens. Wenn das Medium gewinnt, gewinnen auch sie. Aber wenn es eben verliert, verlieren eben auch sie. Deshalb wird die Niederlage des Mediums als Verrat an der eigenen Individualität gesehen. Und die Liebe schlägt blitzschnell in Haß um.

Wie konnte denn der Fußball zu einem so gefährlichen Phänomen werden?

Der Fußball ist eine Religion, eine Art Partizipation der Massen. Auch in Europa. Die spezifische Art und Weise dieser Partizipation, die Liturgie, die Inszenierung, gleicht immer mehr einem rituellen Akt, einem religiösen Opfer.

Aber die meisten Leute gehen ja nicht ins Stadion ...

Es gibt die Aktiven, die das Haus verlassen, um zumindest hin und wieder ein Spiel zu sehen, und die Passiven, die das Spiel zu Hause am Fernseher verfolgen. Letztlich sind das heute die beiden einzigen grundsätzlichen und in Massen erlebten Arten gesellschaftlicher Partizipation.

Soll man also mit dem Fußballspielen aufhören?

Nein. Aber man darf diesen Lauf unserer Zeit ins Nichts nicht noch begünstigen. Das Problem besteht darin, daß es heutzutage sehr schwierig ist, gegen den Strom zu schwimmen und gegen diese Liturgie und gegen diese TV-Ekstase anzukämpfen. Es ist schwierig, jene neue Kathedrale zu verlassen, die das Fußballstadion geworden ist, und auch jene moderne Höhle, die ein eingeschalteter Fernseher inzwischen geworden ist.

Gekürzt aus der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“, 3. 7. 94 (Übersetzung: thos)