Rebirth of the Cool

Doch keine HipHop-Platte zum Comeback vom alten Johnny Cash, wie allerorten gemunkelt wurde. Bloß eine Gitarre und die Stimme ihres Herrn  ■ Von Jörg Feyer

Noch vor zwei Jahren hätte die Ankündigung, ein neues Album von Johnny Cash stehe kurz vor der Veröffentlichung, jenseits treuer Insider-Zirkel nur ein müdes Lächeln provoziert. Cash war mal wieder auf dem absteigenden Ast. CBS, die Firma, für die Cash seit 1958 mehr als 1.450 (!) Songs aufgenommen hatte, setzte ihn knapp nach dem 25jährigen vor die Tür (nachdem die Hits allzu lange ausgeblieben waren) – Dylan reichte offenbar fürs Renommee. Und bei seiner neuen Firma Mercury lief's nicht besser. Da half es auch nichts, daß Cash 1988 für „Water From The Wells Of Home“ sogar Paul McCartney zum Duett überreden konnte. Oder daß die Mekons ein Tribut-Album für ihn arrangierten. Oder daß die Blumen-HipHopper De La Soul den Titel ihres breit rezipierten Debütwerks „3 Feet High And Rising“ von einem 59er Cash-Song lifteten (nämlich „Five Feet High And Rising“).

Doch 1993 war plötzlich alles anders. Nachdem Rick Rubin, der einst für das Rap-Label Def Jam ein paar Straßenjungs aus Queens zur Speerspitze der Pop-Revolte anno 86 frisiert hatte, einen frustrierten Johnny Cash aus seinem Mercury-Deal herausgekauft hatte, überschlugen sich die Musikgazetten regelmäßig mit sensationellem Gemunkel aus dem Rubin/Cash-Camp. ER nehme Songs von Elvis Costello und Frank Black auf! ER lasse sich von Slayer und den Red Hot Chili Peppers begleiten! ER plane ein Rap-Duett mit Glenn Danzig!

Warum die ganze Aufregung? Nur weil da ein anerkannter Hip- Produzent die Ehrenrettung eines ewig Coolen betreibt? Oder sagt die Renaissance des Johnny Cash über die USA der frühen neunziger Jahre ähnlich viel aus wie seine Kooperation mit Dylan über die späten sechziger – damals, als Cash zwischen allen Fronten der political correctness (und incorrectness) zerrieben wurde und Bob Dylan sogar zu einem Auftritt in seiner ABC-TV-Show überreden konnte?

„American Recordings“, Cashs Debüt für Rubin, ist jedenfalls kein aufgerüsteter Country für die Hip- Crowd. Entgegen der clever inszenierten Gerüchteküche hat Cash ganz auf Gaststars verzichtet – Rubin konnte ihn nur mit dem Versprechen ködern, genau das zu tun, was schon Produzentenkollege Don Law im Juli 58 bei der allerersten CBS-Session vorschlug: „Wir lassen ihn einfach er selbst sein. Es gibt keinen Grund zu versuchen, seinen Stil zu ändern. Ich will nur, daß er gute Songs aufnimmt.“ Und so macht sich Cash 35 Jahre später noch mal daran, genau das zu tun, ausgerüstet mit seiner geliebten schwarzen Martin D-28. Die ist hier der Star, neben der sonoren Predigerstimme ihres Herren, versteht sich.

Keine Gaststars also, aber doch einige Gastautoren, die sich nahtlos einfügen. Nick Lowe, Exgatte von Cashs Stieftochter Carlene Carter, liefert mit dem programmatischen „The Beast In Me“ eine Steilvorlage, die Cash genauso treffsicher verwandelt wie Glenn Danzigs knappe, vom Voodoo- Flair umnebelte Fatalismusstudie „Thirteen“, während Loudon Wainwright [welcher? III?? d. säzzer] mit „The Man Who Couldn't Cry“ für absurden Humor sorgt, der als Schlußpunkt ein ideales Gegengewicht zum morbiden Auftakt „Delia's Gone“ darstellt.

Und doch, bei aller Cover- Kunst sind es immer wieder Cashs Gospel-Adaptionen („O Bury Me Not“, „Redemption“), die noch eine Ecke heller strahlen. Und die Songs aus eigener Feder – das von unerschütterlichem Optimismus und Lebenswillen, aber auch von, ja ... Demut gezeichnete „Like A Soldier“; oder „Drive On“, bei dem sich ein rastloser Cash vom galoppierenden Rhythmus seiner Gitarre fortreißen läßt, der seine sonst so sicher geerdete Stimme hier fast zum Überschlag bringt.

Diese Songs handeln von den Dingen, von denen Cash schon immer gesungen hat, doch 94 sind seine Botschaften wieder gefragt. Vielleicht weil, wie taz-Hamburg- Kolumnist Detlef Diederichsen fein beobachtete, sich viele erhoffen, von der „Aura eines echten Daseinskampfes“ benetzt zu werden – in ihrem schnöden Wohlstandsdasein „zwischen Fernsehen und Fußgängerzone“? Oder ist Johnny Cash, der selbst an den Ehrlichkeitsmythos vom Mann, seiner Gitarre und seinen Liedern glauben möchte, einfach der „Protorocknroller“ im „postmodernen Verantwortungszusammenhang“, einer, der „das codierte Heraushängenlassen des Rocknrollers“ beherrscht, wie Karl Bruckmaier in der SZ notierte?

Vielleicht kommen wir mit einem Zitat von Marty Stuart weiter, der lange Gitarre für Bargeld spielte und zu seinen größten Bewunderern aus der neuen Hillbilly- Generation in Nashville gehört. „Manchmal“, schrieb Stuart in den Linernotes zur CBS-Retrospektive „The Greatest Years“, „scheint es so, als ob Cash die einzige Verbindung zwischen dieser Welt und unserer heutigen Gesellschaft darstellt.“ Mit „dieser Welt“ meint Stuart eine, an die sich Johnny Cash in seinen eigenen Linernotes zu „American Recordings“ liebevoll erinnert – dabei (s)eine Initiation in die Musik beschreibend, die uns heute so fern und archaisch dünken muß wie die Zeugnisse archäologischer Ausgrabungen im alten Ägypten. Es sind Nachrichten aus versunkenen Einöden von Arkansas, als ein dreijähriger Johnny Cash Gospellieder mitträllerte, die seine Mutter zur Gitarre sang; als er zum ersten Mal Jimmie Rodgers hörte, im kleinen Transistorradio, das sein Vater aus einem Versandhauskatalog geordert hatte.

Um noch mal die Parallele zu Dylan zu bemühen: Wo der sich den falschen Lauf der Welt zuletzt ganz mit Song-Archetypen aus dem großen US-Traditionsfundus erklären will, sich dabei als Autor „nur“ in mitreißend formulierten, wenngleich auch kulturpessimistisch greinenden Linernotes erklärt, setzt Cash in ähnlich reduziertem Kontext (auch) auf (eigene) Songs voller Erfahrungen, die im besten Sinne „zeitlos“ sind, weil sie an aktuellen Entwicklungen nicht abprallen, sondern darin stets noch eine neue, „zeitgemäße“ Nuance entfalten.

Über einen seiner berühmtesten Songs, „Folsom Prison Blues“ aus dem Jahr 1968, sagte Johnny Cash einmal: „Ich denke, Gefängnissongs sind populär, weil jeder von uns in dem einen oder anderen kleinen Gefängnis hockt. Egal, ob es uns bewußt ist oder nicht – die Zeilen über jemanden, der tatsächlich im Knast sitzt, sprechen auch für viele von uns, die das scheinbar nicht sind, aber in Wirklichkeit doch.“ Und gibt es heute nicht mehr Gefängnisse als je zuvor – real, imaginiert oder gar nicht bewußt wahrgenommen?

In einem davon sitzt Cash derweil auch selbst. Denn es gehört zu den bitteren, aber typischen Ironien des Musikgeschäftes, daß er zur Zeit beachtet wird wie lange nicht mehr, die „American Recordings“ aber bislang trotzdem nur als teurer Import zu haben sind. Rick Rubin nämlich, Chef des ebenfalls „American Recordings“ genannten Labels, hat den Vertriebs- und Promotion-Partner Phonogram in den USA verklagt, weil der sich angeblich nicht an einige Abmachungen im Joint-venture gehalten habe. Resultat: Sämtliche American-Veröffentlichungen sind derzeit für Deutschland „on hold“, was so viel bedeutet wie: Während hinter den Kulissen teure Anwälte ihre Schriftsätze hin- und hergehen lassen, schauen davor nicht wenige Künstler in die Röhre vertraglich verordneter Nicht-Aktivität. Doch sollten sich die Kontrahenten nicht bald wieder in den Armen liegen, stehen die anderen Major Companies schon längst mit unterschriftsreifen Deals Schlange. Nicht zuletzt wegen eines 62jährigen Mannes aus Dyess/Arkansas, der jetzt seinen dritten Frühling erleben darf. Oder ist's schon der vierte?

Johnny Cash: „American Recordings“ (American/Import)

Kurztournee: Heute, München, Circus Krone

9. 7., Hamburg, Stadtpark