„Passive Kollaboration“ in Ungarn

Hätten die ungarischen Juden vor dem Holocaust gerettet werden können? Warum verhielten sich auch jüdische Repräsentanten abwartend? Eine alte Kontroverse wird wiederbelebt  ■ Von Michael Marek

Am frühen Morgen des 15. Mai 1944 rollten die ersten Deportationszüge aus allen Teilen Ungarns nach Oswiecim – Auschwitz. Innerhalb von nur sechs Wochen wurde die Hälfte der ungarischen Juden ermordet – 437.000 Kinder, Frauen und Männer laut Buchführung der Nazis. Maßgeblich verantwortlich dafür: Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der das SS-Sonderkommando von Budapest aus persönlich leitete. Absolute Geheimhaltung, lautete sein oberstes Gebot. Und doch gab es mutige Versuche, die ungarischen Juden rechtzeitig vor ihrem Schicksal zu warnen. Mit ihnen beschäftigen sich Sándor Szenes, der selbst die Deportation miterlebt hat und als Journalist in Ungarn arbeitet, und Frank Baron, nach Kriegsende aus Ungarn in die USA emigriert und heute Professor an der Universität von Kansas.

Zu den wichtigsten Dokumenten gehört der umfangreiche Bericht von Rudolf Vrba und Alfred Wetzler – zwei jungen Slowaken, denen es am 7. April 1944 (also einen Monat vor Beginn des ungarischen Holocaust) gelang, aus Auschwitz zu fliehen. Das Dokument ist einzigartig – sowohl was seine Genauigkeit und Vollständigkeit betrifft als auch das Bemühen seiner Verfasser um objektive Darstellung der Geschehnisse im Lager Auschwitz. Über die Slowakei gelangte das Dokument auch nach Ungarn, schließlich wurden Kopien in das westliche Ausland verschickt, unter anderem in die Schweiz, in die USA und zum Vatikan. Daß der Bericht in Ungarn 1944 nicht veröffentlicht wurde, gehört zu den tragischen Momenten des jüdischen Widerstandes.

Wer war dafür verantwortlich, daß der Vrba-Wetzler-Bericht über die bevorstehenden Massendeportationen nicht veröffentlicht wurde? Vor allem: Hätte die politische Führung unter Miklos Horthy den ungarischen Holocaust verhindern können? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die beiden Autoren in ihrem Buch „Die verschwiegene Warnung“. Das Ergebnis, zu dem Baron und Szenes gelangen, ist ebenso aufschlußreich wie provozierend: Danach besaßen die katholische und die protestantische Kirche, Miklos Horthy als Regent des ungarischen Königreiches und selbst die jüdisch-zionistischen Organisationen Informationen von den Absichten der Nazis. Und das, noch bevor die Verschleppung der ungarischen Juden überhaupt begonnen hatte. Baron und Szenes bezeichnen diesen Personenkreis als „passive Kollaborateure“, die zumindest eine Mitverantwortung für die Deportationen tragen. Die Motive für ihr Schweigen: einerseits antisemitische Ressentiments, andererseits politisches Opportunitätsdenken (Ungarn war seit dem Frühjahr 1944 von deutschen Truppen besetzt). Bleibt die Frage: Warum haben gerade die Vertreter der jüdischen Organisationen die Existenz des Vrba- Wetzler-Berichtes verheimlicht?

Eichmann ging sehr geschickt an sein Vernichtungswerk. Zunächst: keine Drohungen, keine Brutalitäten gegen das ungarische Judentum. Während in Auschwitz- Birkenau ein neuer Gleisanschluß für die Vernichtung der ungarischen Juden entstand, ließ Eichmann in Budapest einen Judenrat bilden und wiegte die Vertreter in Sicherheit. Doch schon bald wurden die ungarischen Juden verfolgt, enteignet und schließlich ghettoisiert durch die Königlich- Ungarische Gendarmerie. Die Eichmann-Männer erledigten ihr tödliches Handwerk mit Tatkraft und Improvisationsvermögen, Beharrlichkeit und Brutalität.

Die These der beiden Autoren lautet nun: Gerade die jüdische Führungsschicht war peinlich darauf bedacht, jegliche Panik unter den Glaubensschwestern und -brüdern zu vermeiden. Denn sie waren Geiseln der Gestapo. Sie wären als erste Zielscheibe von Vergeltungsmaßnahmen geworden, hätten die Deportationen nicht reibungslos geklappt.

Auch den westlichen Alliierten wurde der Vrba-Wetzler-Bericht zugespielt. Verzweifelt wandten sich jüdische Organisationen in den USA an die Roosevelt-Regierung – mit der Bitte, die Gaskammern in Auschwitz oder die Eisenbahnlinien zwischen Ungarn und Polen zu bombardieren. Doch alle Forderungen wurden abgelehnt. Die Begründung der US-Regierung: Solche Einsätze seien undurchführbar. Aber war diese Erklärung tatsächlich stichhaltig? So fragen Baron und Szenes und weisen zu Recht darauf hin, daß die Alliierten längst den Luftraum über Europa kontrollierten und auch logistisch über Möglichkeiten verfügten, gezielte Angriffe zu unternehmen. Bombardierungen hätten die Transporte nach Auschwitz also stoppen können.

Die beiden Autoren beleben mit ihrem Buch eine alte Kontroverse. So richtig es ist, auf Formen der passiven Kollaboration hinzuweisen, so unklar bleibt, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten es für die Mitglieder des Judenrates überhaupt gab. Wie hätte die bedrängte jüdische Bevölkerung auf die Veröffentlichung des Auschwitz-Berichtes in Ungarn reagieren können? Baron und Szenes bleiben eine Antwort schuldig. Richtig ist der Hinweis, daß eine kleine Gruppe von Informierten durch ihr Schweigen anderen Menschen die Möglichkeit nahm, selbständig über das eigene Schicksal zu entscheiden. Auch das heißt, schuldig geworden zu sein.

Zudem vermißt man bei Baron und Szenes die theoretische Fundierung ihrer Thesen. Die Tatsache, daß die SS die jüdischen Opfer in die Organisation der eigenen Vernichtung miteinbezog, war ja konstitutiv für den Holcoaust – nicht nur in Ungarn. Als einer der ersten hat dies der amerikanische Politologe Raul Hilberg erkannt. In seinem monumentalen Standardwerk über die Struktur des Vernichtungsprozesses beschreibt er detailliert, wie die jüdischen Opfer zu „Agenten der eigenen Vernichtung“ gemacht wurden. Diese grausame Einsicht Hilbergs brachte ihm den Vorwurf ein, er spreche die Opfer nachträglich schuldig. Von dieser Konzeption der „Komplizenschaft wider Willen“, insbesondere der Judenräte, fehlt bei Baron und Szenes jeglicher Verweis.

Diese Ambivalenz des Handelns, das wiederum zeigen die beiden Autoren, wird auch und gerade in der Person von Rudolf Kastner deutlich, dem Vorsitzenden der ungarischen Zionisten. Kastner hatte sich die Rettung der ungarischen Juden zur Aufgabe gemacht. Mit Eichmann stand er in direkten Verhandlungen. Doch auch er hielt den Bericht Vrbas und Wetzlers zurück und wurde so zu einem Komplizen der SS. Diese Geheimhaltung war wesentlich für den ungestörten Ablauf der Vernichtung, resümieren Baron und Szenes. Andererseits haben seine Verhandlungen mit Eichmann Tausenden ungarischer Juden das Leben gerettet. Bis heute sind Kastners Hilfeleistungen umstritten. Ein israelisches Gericht faßte das Urteil über ihn in dem Vorwurf zusammen, Kastner habe dem Teufel seine Seele verkauft.

Frank Baron, Sándor Szenes: „Von Ungarn nach Auschwitz. Die verschwiegene Warnung“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1994, 208 Seiten, 34 DM