„Wir brauchen endlich eine Diskussion über Werte“

■ Birgit Hogefeld über Gefühle, Illegalität und ihre Haftbedingungen

Seit Deiner Festnahme ist mehr als ein Jahr vergangen. Du hast Dich vorher bereits intensiv mit Knast auseinandergesetzt. Abstrakt wußtest Du, was Dich erwartet. Wie erlebst Du jetzt die Situation?

Birgit Hogefeld: Natürlich habe ich früher, wenn ich Berichte von Gefangenen gelesen habe, versucht, mir das vorzustellen – heute bin ich mir sicher, daß das nicht funktionieren kann. Ich hatte nach meiner Verhaftung nicht das Gefühl, daß mir das viel hilft. Der Versuch, sich in eine unbekannte Situation hineinzudenken, hat ja immer eigene Erfahrungen als Bezugspunkte; für das Leben und die Erfahrungen, die du in Isolationhaft machst, gibt es aber im „normalen“ Leben keine Bezugspunkte.

Was ich aus den vielen Berichten ziehen konnte, war, daß es möglich ist, selbst in sehr viel schärferen Bedingungen als meinen, einen Weg zu finden – das sehe ich an Irmgard und anderen Gefangenen hier. Dafür gibt es auch unzählige Beispiele aus anderen Ländern.

Wenn ich heute Berichte von anderen Gefangenen über Isolation lese, dann vergleiche ich das mit dem, was ich bei mir selbst registriere – manche Symptome kenne ich, andere nicht. So ist es leichter, die auftretenden Symptome als völlig „normale“ Erscheinungen zu sehen, die Isolationshaft produzieren soll und produziert. Das erleichtert ein relativ ruhiges und sachliches Umgehen mit Sachen, die dich sonst beunruhigen würden. Meinen Alltag hier im Knast versuche ich möglichst vielfältig zu gestalten. Ich will der Gefahr begegnen, eindimensional zu denken in einem Leben, in dem ich immer mit mir allein bin – bis auf die eine Stunde täglich im Hof mit wenigen und ständig wechselnden anderen Frauen. Natürlich beschäftige ich mich schwerpunktmäßig mit politischen Fragen, aber ich lese oft auch Romane, Bücher über Musik oder völkerkundliche Themen; ich höre auch viel Musik und habe angefangen, Querflöte zu spielen. Ein Keyboard wird mir seit einem dreiviertel Jahr mit wechselnden Begründungen verweigert. Ansonsten schreibe ich oft Briefe, aber seit das OLG Frankfurt für mich zuständig ist, hat sich der Charakter des Briefe-Schreibens verändert. Es gab zwar von Anfang an viele Verzögerungen, aber jetzt ist es so, daß Gedankenaustausch und Diskussion nicht mehr möglich sind. Lutz Taufer beispielsweise habe ich sehr oft geschrieben, wir sind „alte Freunde“ – dann habe ich ewig nichts mehr von ihm gehört, und jetzt kam ein Brief von ihm, der war 88 Tage unterwegs – eine Steigerung dieser Sorte Postverschleppung könnte nur noch das totale Schreibverbot sein.

Du warst die erste Illegale, die nach ihrer Verhaftung über Gefühle gesprochen hat. Es war klar, daß die Medien dies auf sensationsgierige Weise aufgreifen würden. Dafür wurdest Du scharf kritisiert.

Die Kritik eines Teils der Gefangenen daran, daß ich in dem ersten veröffentlichten Text nach meiner Verhaftung sehr persönlich über Wolfgangs Tod, meine Trauer und unser gemeinsames Leben geschrieben habe, hat, glaube ich, sehr viel mehr mit politischen Differenzen zu tun als mit meinem damaligen Text.

Nach meiner Verhaftung mußte und wollte ich was zu dem Ablauf sagen, und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dazu eine „sachliche“ Schilderung zu schreiben, in der Wolfgang vorkommt als „ein Genosse von mir, der erschossen worden ist“. So eine Sorte Bericht, in dem er nur am Rande und emotionslos genannt wird, wäre für mich Verrat an unserem gemeinsamen Leben. – Ich hatte damals das Gefühl, daß ich das unbedingt machen muß, wenn ich nicht völlig erdrückt werden will. Natürlich fand ich dabei problematisch, der Gegenseite so weitgehenden Einblick in meine Gefühlswelt zu geben, gerade weil klar war, daß mich unbegrenzte Zeit Isolationshaft erwartet. Mittlerweile weiß ich sicher, daß es für mich die richtige Entscheidung war – für andere Menschen in einer ähnlichen Situation kann das anders sein. Im Laufe der Zeit wurde mir immer klarer, daß ich das Schreiben in dieser Lebenssituation als Ausdrucksform für mich brauche. Isolationshaft zielt ja darauf, daß du deine Gefühle nicht nach außen bringen sollst, du sollst dich so weit in dich zurückziehen, bis du den Ausgang nicht mehr findest.

Neulich kam dazu wieder die prompte Reaktion der Bundesanwaltschaft: in den Akten zum Prozeß gegen mich ist ein Ordner zur „Person Wolfgang Grams“ – darin ist alles mögliche und auch Leichenfotos von ihm, also sein nackter Körper, aufgehängt und aus verschiedenen Richtungen fotografiert; viele Bilder von Wolfgangs Kopf, mit Haaren, ohne Haare, Einschußwunde, Ausschuß, und ein Bild, wo sie ihm die Kopfhaut abgezogen und bis ins Gesicht gezogen haben. Weil sie wissen, daß mich der Anblick solcher Bilder zerreißt, schicken sie mir die, damit ich unvorbereitet darauf stoße. Nur, das mit den Fotos ist natürlich in dem Moment sehr hart, aber damit kann ich leben – wenn ich aber nichts mehr schreiben würde über mich und mich auch dieser Ausdrucks- und Auseinandersetzungsmöglichkeit berauben würde, damit könnte ich vermutlich nicht leben.

Haben die Erklärungen nach Deiner Festnahme neben Deiner persönlichen Verarbeitung auch etwas mit dem veränderten Selbstverständnis der RAF in den letzten Jahren zu tun?

Einen solchen Zusammenhang gibts bestimmt. Frühere RAF- Texte haben oft eine „glatte“ Sicht der Welt vermittelt, die reale Widersprüchlichkeiten nicht sieht, und ein Denken, das viele Fragen weder stellt noch zuläßt – damit haben wir gebrochen, und „sprachlich verständlicher“ ist ein Ergebnis davon. In den Texten aus den letzten Jahren spiegelt sich eine andere Diskussionskultur wider, die eigene Überlegungen, Vorstellungen, aber auch Fragen und Unklarheiten anderen Menschen vermitteln und daselbe von ihnen wissen will, um gemeinsam nach Antworten und Lösungen zu suchen.

Diejenigen, die vor Deiner Zeit illegal organisiert waren, haben sich als Avantgarde begriffen. Du vermittelst ein anderes Bild, trittst eher bescheiden auf.

Es ist ja eine weltweite Erfahrung, daß viele Gruppen, die sich selber als Avantgarde gesehen haben, sich immer weiter von anderen Kämpfen entfernt haben oder ihre gesellschaftliche Isolierung nicht aufheben konnten. Hier hätte das von der RAF spätestens 77 zu Konsequenzen und Neubestimmungen führen müssen.

Anfang der achtziger Jahre hat die RAF die „Front-Konzeption“ entwickelt. Deren Kern war, verschiedene Kämpfe hier zusammenzubringen und zu vereinheitlichen. Das hätte unbedingt Anlaß sein müssen, auch über die eigene Rolle und Funktion neu nachzudenken und sie zur Diskussion zu stellen. Der Text, in dem die RAF ihre neue Konzeption damals begründet hat, ist genau in dieser Frage auch widersprüchlich und schlingert.

Dieses Schlingern hätte überhaupt kein Problem sein müssen. Im Gegenteil. Wäre es offen als Unsicherheit und Frage darüber, wie der gemeinsame Kampf organisiert und geführt werden soll, formuliert worden, hätte das zu spannenden Debatten führen können. Aber so war damals die RAF nicht, und so waren auch die meisten GenossInnen aus ihrem politischen Umfeld nicht. Die RAF hat ihre „neue Strategie“ vorgestellt, und viele der Leute, die sich darauf bezogen haben, haben es als „neue Wahrheit“ aufgenommen. So hat sich die alte „Avantgarde“-Rolle der RAF verlängert – und hat sich auch in den darauffolgenden Jahren nicht geändert. Gedanken um emanzipatorische Entwicklungen haben in unseren eigenen Reihen eine untergeordnete Rolle gespielt.

Ich habe in den letzten Monaten oft Texte aus dieser Zeit gelesen, u.a. RAF-Erklärungen und ein Interview zur Erschießung dieses GI im Zusammenhang mit der Air- Base-Aktion 1985. Diese Erschießung war ja in der gesamten Linken auf schärfste Kritik gestoßen. Es gab unzählige Diskussionspapiere verschiedendster Gruppen und Einzelpersonen, und viele davon waren sehr solidarisch. Die Reaktion der RAF auf diese Kritik war die Ausgeburt der Ignoranz gegenüber allen: „daß Krieg ist“ – das ist natürlich keine Antwort. Ich nenne dieses Beispiel nicht zufällig und auch nur deshalb, weil die Erschießung des GI einer der schwersten Fehler dieser Zeit war, sondern weil ich dabei denke, daß gerade diese Ignoranz der RAF gegenüber jeder Kritik die Türen zugeschlagen hat. Hätte sich die RAF der Kritik offen gestellt, hätte das unweigerlich zu sehr grundlegenden Diskussionen auch über Fragen wie „revolutionäre Moral“ und „Werte“ geführt. Daß das damals nicht gelaufen ist, war der Anfang vom Ende der „Front-Konzeption“. Die Isolierung der RAF innerhalb des linken Spektrums und der Gesellschaft wurde festgeklopft. – Die Front-Vorstellung hat sich bis 89 langsam totgelaufen – 89 war das Ende der Sackgasse erreicht. Die RAF hatte eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder die Koffer zu packen oder sich endlich ihrer Geschichte zu stellen.

Die Bereitschaft zur selbstkritischen Reflexion der eigenen politischen Praxis sollte für RevolutionärInnen eigentlich selbstverständlich sein, für die RAF war es das aus ihrer ganzen Geschichte überhaupt nicht, und die meisten von uns hatten das nie gelernt.

Vor dem Hintergrund einer solchen Biographie wird mensch vorsichtiger, was schnelle Antworten, schematische Einordnungen betrifft und alles in allem wohl auch nachdenklicher.

Durch viele Deiner Äußerungen ist ein Bild von einer durch normalen Alltag geprägten Illegalität entstanden: Brot backen, Marmelade kochen. Ist das ein realistisches Bild der Illegalität?

In der Zwischenzeit habe ich öfter überlegt, ob es richtig war, in dieser Form über das Leben in der Illegalität zu schreiben. Als ich diese Beispiele damals genannt habe, ging es mir darum, das über lange Jahre von der Staatsseite immer wieder produzierte Bild von „gehetzten“ und „gejagten“ Menschen zu zerstören, weil es nicht stimmt. Dieses Bild zielt darauf ab, die absolute Übermacht des Staatsschutzapparates in die Köpfe vieler Menschen zu hämmern, damit sie sich ohnmächtig fühlen.

Oft waren Leute erstaunt, wenn die RAF relativ schnell reagiert hat. Es hat sie überrascht, daß wir hier waren, denn sie vermuteten uns im europäischen Ausland oder noch weiter weg – sie konnten sich offenbar nicht vorstellen, daß es möglich ist, die Illegalität in einem Land wie Deutschland zu organisieren. Um zu sagen, daß das doch geht, habe ich diese Beispiele mit dem Brot und der Marmelade beschrieben.

Aber ein realistisches Bild des Lebens in der Illegalität ist das nicht. In der Illegalität kommen auf jede/n Unmengen praktischer, politischer und organisatorischer Fragen zu, die alle beantwortet werden müssen – „Trott“ ist in diesem Leben eher selten, und jede/r muß sich unzählige Fähigkeiten verschiedenster Art aneignen.

Du hast bisher in allem, was ich gelesen habe, als Motivation für Deinen bewaffneten Kampf einen ganz starken Bezug zum historischen Faschismus in Deutschland beschrieben. Zum Beispiel die Erfahrungen deiner Eltern. In einem Brief sprichst du sogar davon, daß aufgrund dieser Vergangenheit dein Lebensgefühl davon bestimmt war, „kein Recht auf persönliches Glück“ zu haben.

Das ist, glaube ich, ein falscher Eindruck, der dadurch entstanden ist, daß ich mich seit einiger Zeit sehr viel mit diesen Fragen beschäftige. Natürlich hat die Tatsache, daß es hier Faschismus gab, daß es Auschwitz gegeben hat, meinen Lebensweg mit geprägt.

Ich hatte geschrieben, daß mein Vater Wehrmachtsoldat gewesen ist und daß durch das Dorf meiner Mutter regelmäßig Busse gefahren sind, mit denen behinderte Menschen zur Vergasung gebracht wurden. Und daß mein Lebensgefühl lange Zeit mit davon geprägt war, daß ich bereits als Kind eine Ahnung davon hatte, daß ich mein Leben den Tatsachen „verdanke“, daß mein Vater zu feige war zu desertieren und meine Mutter nie versucht hat, das Leben dieser behinderten Menschen zu retten.

Wir wußten, daß die, die vor 45 das Sagen hatten, danach nahtlos in vielen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schlüsselpositionen weitergemacht haben. Es war leicht, den BRD-Staat in dieser Kontinuität zu sehen und zu begreifen – seine Rolle im Vietnam-Krieg ist nur ein Beispiel. Es war nicht schwer, eine Linie zu sehen zwischen der Ermordung Tausender KommunistInnen und AntifaschistInnen und den Morden an Holger Meins, Ulrike Meinhof und vielen anderen.

Wenn ich trotzdem sage, daß ich mich zu wenig mit dieser Geschichte auseinandergesetzt habe, meine ich damit die Seite, die die innere Voraussetzung in der Gesellschaft gewesen ist – Faschismus und die fabrikmäßige Vernichtung von sechs Millionen Juden wäre ohne weiße Herrenmenschen- Ideologie kombiniert mit Untertanengeist nicht denkbar gewesen. Dies wird bis heute in dieser Gesellschaft immer wieder reproduziert.

Gegen die ständig steigende Zahl rassistischer Überfälle greifen antifaschistische beziehungsweise antirassistische Demonstrationen und die Organisierung von aktivem Schutz vor solchen Übergriffen – so wichtig sie auch sind – langfristig zu kurz. Rassismus ist weder militant noch militärisch zu besiegen, und nicht alle von rassistischen Übergriffen bedrohten Menschen können geschützt werden. Das einzige, was langfristig sowohl Schutz und zugleich Perspektive sein kann, ist eine Wertediskussion, die radikal mit weißem Vormacht- und Dominanzanspruch bricht.

Die „alten“ Gefangenen aus der RAF haben als Hintergrund ihrer Politisierung auch ein positives Lebensgefühl und neue Beziehungen untereinander benannt. Du sprichst viel von historischem Faschismus, Trauer. Ein Gegensatz?

An dem 68er-Aufbruch war ich selber nicht beteiligt, damals war ich zwölf. Aber gerade als Jugendliche habe ich sehr viel von der Wirkung in die Gesellschaft hinein gespürt. In dieser Zeit liefen die Anfänge meiner Politisierung, und die waren sehr stark von einem positiven Lebensgefühl bestimmt. Gleichzeitig war da aber auch der „Marsch durch die Institutionen“ unserer „Vorbilder“, und wir hatten sie plötzlich in Gestalt von LehrerInnen vor uns, die zwar noch die ganzen Parolen ihres Aufbruchs kannten – doch das hatte alles schon lange nichts mehr mit ihrem Leben zu tun. Für uns waren sie sehr bald SchwätzerInnen, die ihren eigenen Aufbruch verraten, was zu großer Distanz und Ablehnung geführt hat. Heute glaube ich, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen diesen ziemlich prägenden Erfahrungen und der Tatsache, daß sich unsere späteren Kämpfe in erster Linie gegen etwas gerichtet haben. Also da sehe ich einen wichtigen Unterschied zwischen den „Alten“ und mir oder gleichaltrigen Leuten.

Was mir dazu einfällt: Es hat lange zur RAF-Ideologie gehört, Guerilla und das Leben in der Illegalität als einzig möglichen Rahmen hinzustellen, in dem „neue Beziehungen“ und „Kollektivität“ lebbar sind, und so zu tun, als wären wir durch diese Entscheidung schon „neue Menschen“. Das führte zu Behauptungen, daß in der Guerilla die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern und alle daraus resultierenden Widersprüche und Probleme durch den gemeinsamen Kampf aufgehoben und gelöst wären. Das ist natürlich Quatsch. Gerade in dieser Frage waren Frauen aus Zusammenhängen der Frauenbewegung sehr viel weiter. Für uns dagegen war diese Problematik lange nur einer der vielen „Nebenwidersprüche“.

In allem, was Du bisher beschrieben hast, fehlen politische Erfahrungen aus legalen Mobilisierungen: Startbahnbewegung, Häuserkämpfe. Sind sie Dir nicht mehr wichtig?

In einer Clique linker SchülerInnen haben wir die letzten Demos gegen den Vietnam-Krieg noch mitgemacht, dann Fahrpreiskämpfe, Initiativen für selbstverwaltete Jugendzentren und vieles andere. Als 74 der Hungerstreik der politischen Gefangenen war und Holger Meins ermordet wurde, hat mich das tief getroffen – ich habe sehr viel über Isolationsfolter und die toten Trakte gelesen und kam zu dem Schluß, daß mich das was angeht. Ich wollte nicht in die Fußstapfen der Generation vor mir treten; ich wollte nicht zu denen gehören, die hinterher sagen, sie hätten von allem nichts gewußt.

Ich wäre gerne Organistin geworden, habe dann aber angefangen, Jura zu studieren, weil ich dachte, daß ich als Rechtsanwältin viel gegen diese Haftbedingungen machen könnte.

Seit dieser Zeit war ich hauptsächlich in Gruppen, deren Schwerpunkt die Verbesserung der Haftbedingungen der politischen Gefangenen war. Bei uns hieß das „Rote Hilfe“, in anderen Städten waren es die „Anti-Folter- Komitees“. Das war aber anfangs von mir aus keine bewußte Entscheidung, und vor allem war es keine Entscheidung gegen andere Initiativen. Ulrike Meinhof wurde umgebracht, die Situation der anderen Gefangenen hat sich immer weiter verschärft, der Tod weiterer Gefangener war vorgeplant ...

Im Laufe der Zeit haben die meisten dieser Gruppen angefangen, sich inhaltlich auf die Politik und Praxis der RAF zu beziehen – und wir haben anderen Linken gegenüber die RAF-Politik vertreten und vermittelt.

Der Inhalt unserer Diskussionen hatte aber überhaupt keinen Bezug zu unserer Praxis, denn die war weiterhin auf die Verbesserung der Haftbedingungen oder Unterstützung von Hungerstreiks ausgerichtet und war der von Menschenrechtsgruppen ähnlich.

Gleichzeitig kam bei dem meisten von uns der Druck oder Anspruch, selbst Guerilla machen zu müssen, weil das aus unserer Diskussion und Analyse einfach die logische Konsequenz gewesen wäre, obwohl wir spürten, daß uns dafür viele Voraussetzungen fehlten. – Dieser über lange Jahre unaufgelöste Widerspruch hat für viele von uns zu einer unglaublich widersprüchlichen Lebenssituation geführt, die noch dadurch verschärft wurde, daß wir vom Staat natürlich nicht wie Menschenrechtsgruppen behandelt, sondern als „RAF-Unterstützer“ bekämpft wurden.

Das ganze beschreibt die Zeit bis Anfang der achtziger Jahre. Bis dahin war unser Verhältnis zu anderen Linken davon bestimmt, daß wir ihnen unsere beziehungsweise die RAF-Analysen vorgeknallt haben; und wie es wohl immer der Fall ist, wenn Menschen die Wurzeln ihres eigenen Aufbruchs verlieren und sich ihren eigenen Hoffnungen entfremden, war alles unglaublich eng und dogmatisch.

Gerade auf die Frage nach den Kämpfen an der Startbahn-West bezogen, kann ich das gut erklären. Ich selber war nicht ein einziges Mal an der Startbahn. Einer der Gründe dafür war, daß in „meinen“ politischen Zusammenhängen, Bewegungen wie die Startbahnbewegung immer auf bestimmte inhaltliche Aussagen und Parolen hin abgeklopft wurden, und wenn die nicht vorkamen, dann galten sie als „bürgerlich“ oder „reformistisch“.

Die Spitze des Ganzen war die, daß wir irgendwann selber eine „Startbahndemonstration“ organisiert haben. Die kann man unter dem Stichpunkt zusammenfassen: „Wir waren wenige, dafür hatten wir die richtigen Parolen.“

Bis auf die Erinnerung an einzelne Menschen sind meine Eindrücke und Gefühle, auf diese Zeit bezogen, heute im wesentlichen negativ besetzt.

Wie hat sich der Zusammenbruch des realsozialistischen Lagers auf Eure Diskussionsprozesse ausgewirkt?

Das Ende einer ganzen Epoche seit 1917 hat weltweit alle militanten Bewegungen und Gruppen vor eine grundlegend neue Situation gestellt. Für die RAF, aus der speziellen Situation, daß für uns die selbstkritische Reflexion nicht zur selbstverständlichen Rangehensweise gehört hat, begann eine Phase, in deren Verlauf wir über die gesamte RAF-Geschichte diskutiert und viele der jahrelang geltenden und „feststehenden“ Bestimmungen in Frage gestellt haben. Dabei ging es zum Beispiel um Kritik an der ausschließlichen Ausrichtung unseres Kampfes gegen Verbrechen und Strategien der Gegenseite – und auch wenn diese Ausrichtung nachvollziehbar ist in einer Zeit, in der alles auf die globale Katastrophe zusteuert, ist es trotzdem nicht richtig, sich davon treiben und bestimmen zu lassen, und nur möglich auf der Grundlage einer völligen Überschätzung der eigenen Möglichkeiten, also der Wirkung der Interventionen so kleiner Zusammenhänge, wie es die RAF und später RAF/Front gewesen ist; auch wenn diese Wirkung mit anderen Kämpfen zusammenkommt und verstärkt wird.

Ich denke, daß Kämpfe, die auf Dauer allein an der Negation orientiert sind, langfristig keine Mobilisierungskraft haben können. Da, wo andere sich mit dem Kampf der RAF identifiziert haben, war es immer öfter die Identifizierung mit der Kompromißlosigkeit der Angriffe statt einer Identifizierung mit den Zielen. Die wurden immer undeutlicher und haben sich aus den Angriffen der RAF nicht mehr vermittelt.

Außerdem gab es viele Diskussionen um die Frage der Neubestimmung von Werten, die Orientierung sowohl für einen langfristigen Kampf zugleich für die Lösung aktueller konkreter Probleme geben. Wie weit wir davon entfernt sind, will ich mal an einem Beispiel verdeutlichen. Ich kann mich an den Text eines Liedes erinnern, das nach dem Brandanschlag von Mölln geschrieben wurde, es hatte ungefähr folgenden Inhalt: Wir – also die weißen Deutschen – wachen morgens auf und alle Ausländer sind über Nacht aus diesem Land verschwunden – und dann die Auswirkungen, die das für „uns“ hat: der Müll bleibt liegen, die Kebap-Bude dicht, die Folkloregruppen weg usw. Den Leuten, die dieses Lied gemacht haben, unterstelle ich nur die allerbesten Absichten, aber ihren Argumenten gegen Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit liegen ähnliche Wertkategorien zugrunde, wie den Anschlägen der Rassisten. Bei beiden geht es nur um „uns“. „Unsere“ Interessen stehen selbst da noch im Mittelpunkt, wo es um die Begründung dafür geht, daß ausländische Menschen nicht angegriffen oder verbrannt werden dürfen.

Auch deshalb brauchen wir endlich eine „Wertediskussion“. Werte, wie beispielsweise „Gleichheit“ oder „Existenzrecht aller Menschen“. Wäre das im gesellschaftlichen Bewußtsein hier verankert, könnte Rassismus allenfalls noch als Randerscheinung vorkommen. Ohne die Neusetzung solcher Maßstäbe wird es weder hier eine menschliche Perspektive geben können noch werden die aktuellen Menschheitsprobleme wie Hunger und ökologischer Kollaps gelöst werden können. Jeder Veränderung auch im Trikont steht immer „unser Anspruch“ auf bestimmte Lebensstandards entgegen – auch wenn die hier schon lange nicht mehr für alle Menschen realisierbar sind.

Welche Eindrücke hattest Du bei Deinen Reisen durch die Ex- DDR?

Als sehr positiv habe ich empfunden, daß die meisten Menschen, denen wir begegneten, anderen und auch uns gegenüber sehr aufgeschlossen waren. Für sie war es – damals noch – selbstverständlich miteinander zu reden, und sie hatten Interesse und Neugierde an „Zufallswessis“ wie uns, die dorthin kamen, um etwas wissen zu wollen, statt ihnen zu sagen, wo's lang geht. Mein Eindruck war, daß die Menschen weniger isoliert leben und der gesamte Lebensrhythmus viel ruhiger und dadurch menschlicher ist.

Allerdings blieb als Gesamtbild, daß das Leben dort im wesentlichen an denselben Wertkategorien ausgerichtet ist wie hier und daß vieles nach denselben Denkmustern abläuft – zum Beispiel der Stellenwert von Ordnung und Disziplin und stumpfsinnigem Bürokratismus, also diese ganzen Erscheinungen, die zur Entmündigung von Menschen führen (sollen), waren dort in einem Maß ausgeprägt, das ich nach „40 Jahren Sozialismus“ nicht erwartet hätte. Entsprechend haben auch fast alle Leute Fehler und Unzulänglichkeiten in der DDR-Geschichte als Fehler von denen oben gesehen, auf die sie keinen Einfluß hatten. Ich denke, daß sich das Menschenbild, dem dort 40 Jahre lang nachgeeifert wurde, sich in vielem gar nicht so sehr von dem hier unterscheidet, nämlich der entmündigte Untertan. Deshalb glaube ich auch, daß die Linke aus der Ex- DDR bei der Aufarbeitung ihrer Fehler und Schwächen in vielem auf dieselben Fragen stoßen wird, wie wir auch.

Wie siehst Du heute die ganze Auseinandersetzung um den V-Mann Klaus Steinmetz – empfindest Du Wut?

Daß der VS diesen Spitzel an uns ranschieben konnte, hatte mehrere Gründe. Ich will das hier nur kurz anreißen. In der Zeit, in der wir zu Steinmetz Kontakt aufgenommen haben, hatten sich viele Vorstellungen als überholt und falsch erwiesen; auch unsere Kriterien für Kontakte zu anderen waren unscharf geworden. Steinmetz Masche war, sich in politischen Diskussionen fragend und unsicher zu geben, und genau das wurde von uns akzeptiert und nicht hinterfragt. Wir forderten von ihm keine Verantwortlichkeit und Initiative. Das hing auch damit zusammen, daß wir uns intensiv mit den negativen Seiten der RAF/ Front-Geschichte auseinandergesetzt haben. Damit, daß es über lange Zeit absolut keinen Raum für Fragen, Unsicherheiten und Zweifel von GenossInnen gegeben hat. Das zu sehen und ändern zu wollen, hat zeitweise zum Gegenteil geführt, nämlich andere in Ruhe zu lassen und nichts von ihnen zu fordern. Und genau das war Bedingung und Möglichkeit für diesen VS-Spitzel. – Wut auf ihn? Ich weiß nicht, das spielt für mich eigentlich nur in kurzen Momenten überhaupt eine Rolle, also ich tigere nicht durch die Zelle und habe Rachephantasien.

Sie drohen Dir mit lebenslänglichem Knast. Irmgard Möller ist seit über 21 Jahren inhaftiert. Offensichtlich eine reale Perspektive für alle Gefangenen aus der RAF.

Das ist natürlich eine ziemlich düstere Lebensperspektive, die sie gegen mich planen. Und wie ich damit umgehe – also vorstellen, im Sinn von Vorausdenken oder mich da reindenken, kann ich mir das nicht. Es gibt Momente, da finde ich den Gedanken an 20 Jahre Knast oder daß ich hier vielleicht nicht mehr lebend rauskomme, nur bedrohlich und er macht mir Angst – aber es ist eine Angst, mit der ich umgehen und so leben kann, daß sie mein Leben nicht bestimmt.

Was hat die vieldiskutierte Kinkel-Initiative Deiner Meinung nach bewirkt?

Daß Kinkel um die Jahreswende 91/92 die Frage nach der Freilassung von einzelnen Gefangenen in die öffentliche Diskussion gebracht hat, hatte ja damals keinen unmittelbaren Anlaß. Es war weder zur Zeit eines Hungerstreiks noch gab es eine breite Mobilisierung. Ich denke, die Kinkel- oder KGT-Initiative war Antwort auf zwei Entwicklungen: einerseits jahrelangen Mobilisierungen an der Gefangenenfrage, die zumindest seit dem Hungerstreik 89 auf immer größere Resonanz in „fortschrittlichen“ Teilen der Gesellschaft getroffen ist und zu Widersprüchen geführt hat und zum zweiten, daß es jahrelang keinen Fahndungserfolg gegen die RAF gegeben hatte und daß nach der Aktion gegen Rohwedder 1991 von Seiten der Wirtschaft der Druck auf die Regierung verschärft wurde, nach „Lösungen“ zu suchen, die in der gesamten Konfrontation RAF – Staat zu einer Entschärfung führen.

Nach der RAF-Erklärung vom April 92, in der gesagt wurde, daß die Eskalation zurückgenommen wird, kam von Teilen der radikalen Linken die Kritik: die RAF macht genau das, was mit dieser Initiative konzipiert war, nämlich den bewaffneten Kampf beenden. Unsere Entscheidung hatte nichts mit dieser Kinkel-Initiative zu tun, das heißt, wenn Kinkel damit nicht gekommen wäre, wäre unsere Diskussion trotzdem dieselbe gewesen und auch das Ergebnis: die globale Entwicklung (und alle Fragen daraus) und die Situation in der Linken hier haben für uns eine Zäsur zwingend gemacht, um ohne Vorgaben zusammen mit anderen nach Wegen zu suchen, wie Veränderungen und eine menschliche Perspektive erkämpft werden können.

Diese Einschätzung, daß Ziel dieser KGT-Initiative auch war, die RAF, die Gefangenen und den politischen Zusammenhang zu spalten, ist natürlich richtig, aber das ist doch im Grunde ein alter Hut, denn seit es den Kampf der RAF und der Gefangenen gibt, ging es von der Staatsseite aus nie um was anderes als spalten und zerschlagen. Deshalb finde ich es absurd, die gesamte Entwicklung seit 92 bis hin zu dieser „Spaltung“ im Herbst 93 auf die besondere Raffinesse von Kinkel beziehungsweise dieser Initiative zurückzuführen. Diese „Spaltung“ und vor allem die Art, wie sie gelaufen ist, sagt sehr viel über uns, unsere Unfähigkeit mit Unterschieden und Widersprüchen umzugehen und eben, daß wir keine Diskussionskultur entwickelt haben, in der es Raum auch für unbequem erscheinende Fragen und kontroverse Debatten gibt. Das und nicht diese „Kinkel-Initiative“ war der Grund für diese Spaltung.

Dieses Interview ist kein Interview. Denn die Gerichte haben alle Anfragen von JournalistInnen, ein direktes Gespräch mit Birgit Hogefeld zu führen, abgelehnt. Die taz hat trotzdem einen Weg des Gedankenaustauschs gefunden. Briefe und Äußerungen von Birgit Hogefeld haben wir zusammengetragen, systematisiert und geben sie in der vorliegenden Form wieder. Wer nachfragen will, wende sich direkt an Birgit Hogefeld. Postadresse: OLG Frankfurt, 5. Senat, Zeil 42, 60 313 Frankfurt