Friedelind blieb standhaft

Bayreuth und der Nationalsozialismus: Zwei neue Bücher zu den Festspielen, die ab Montag wieder über die Bühne gehen  ■ Von Thierry Chervel

Vierzig Jahre hatte Cosima Wagner ihren Gatten schon überlebt. Wie jeden Morgen lag sie auf ihrem Bett in ihrer „Abteilung“ der Villa Wahnfried, dem Balkonzimmer im ersten Stock. Ihre Knie hielt sie ausgestreckt, wie es ihr Schwenninger, Bismarcks berühmter Leibarzt, verordnet hatte. Die trüben, längst erblindeten Augen waren abgewandt vom Licht. „Wir Kinder durften mit ihr ,Doktor‘ spielen: Wieland maß mit einem Bleistift ihre Temperatur, ich fühlte ihr den Puls, Wolfgang versuchte über einem Glas einen Teelöffel tropfenweise mit Wasser zu füllen, und das zweieinhalbjährige Baby Verena spielte auf dem Boden mit einigen Kissen.“

So sommermorgendlich, morbide und idyllisch beginnt „Nacht über Bayreuth“, das Erinnerungsbuch der Urenkelin Franz Liszts, Enkelin Richard und Cosima Wagners, Tochter Siegfrieds und Winifreds, Schwester Wielands und Wolfgangs: Friedelind Wagner. Die Szene spielt im Jahr 1923, sie gehörte zum rituellen Tagesablauf in der Villa Wahnfried: Jeden Morgen durften die Kinder, deren Zimmer neben dem Cosimas lag, eine Stunde lang mit der schlohweißen Greisin Doktor spielen. An diesem Morgen aber wurden sie vorzeitig unterbrochen. Ein Retter wartete im Vestibül. Die Kinder wurden herabgerufen, ihm artig die Hand zu schütteln.

„Ich muß gestehen, daß ich sofort einen großen und tiefen Eindruck von dem Mann hatte“, bekannte Winifred Wagner 1975 im Interview mit Hans Jürgen Syberberg, „als Persönlichkeit, das Auge war vor allen Dingen ungeheuer anziehend, ganz blau und ein großes ausdrucksvolles Auge.“

Friedelind Wagner zeichnet ein etwas genaueres Bild dieser folgenreichen ersten Begegnung: „Er sah recht gewöhnlich aus in seinen kurzen bayerischen Lederhosen, den dicken Wollsocken, einem rotblau karierten Hemd und einer kurzen, blauen Jacke, die um seinen mageren Körper schlotterte; die spitzen Backenknochen schienen die hohlen, fahlen Wangen durchbohren zu wollen, seine blauen Augen glänzten unnatürlich in fanatischer Glut; er hatte einen ausgehungerten Blick. (...) Nachher gingen wir hinter den Eltern und dem ständig Bücklinge machenden, sich in der ungewohnten Umgebung unsicher fühlenden Gast in den Garten. Er erzählte den Eltern von dem Staatsstreich, den seine Partei für Ende des Jahres plane, ein Schritt, der, wenn er gelinge, die sofortige Machtergreifung bedeute. Als er von seinen Plänen sprach, wurde seine Stimme lebhaft, tiefer und klingender, und wir saßen um ihn herum wie ein Kreis kleiner, verzauberter Vögel, die Musik lauschen.“

Es war der Beginn der tiefen Freundschaft zwischen Winnie und Wolf. Wenig später, nach dem mißglückten Novemberputsch, schickte sie ihm Papier und Tinte nach Landsberg, damit er „Mein Kampf“ schreiben konnte. Die Kinder halfen beim Packen. So innig war die Beziehung, daß 1930, nach dem Tode Siegfried Wagners, sogar von einer bevorstehenden Hochzeit die Rede war. Sie beließen es bei der für beide Seiten so vorteilhaften Allianz. Wolf wußte, wer Wagner für ihn war: sein wichtigster Vorläufer. Ohne das Ideal des Gesamtkunstwerks, ohne die Jahr für Jahr in Bayreuth zelebrierte Verwirklichung eines totalen Künstlerwillens und ohne die „Bayreuther Blätter“, in denen Chamberlain die Grundlagen seiner späteren Rassenlehre formulierte, wäre eine Figur wie er selbst gar nicht möglich gewesen.

Winifred, die in Bayreuth Verbündete gegen andere Fraktionen des Clans und Wagnerianertums brauchte, erkannte die Seelenverwandtschaft als erste. Nach der Machtübernahme wurde ihm das Festspielhaus zur Weihestätte der ästhetisierten Politik und Wahnfried zum Familienersatz. Die Königskinder duzten ihn. Waren sie in Berlin, lud er sie zum Essen in seine Privatgemächer. Ihre kleinsten Sorgen fanden sein offenes Ohr. Brauchten sie Ferienverlängerung, um bei den Festspielen dabeizusein, rief er bei Winnie an und veranlaßte alle nötigen Schritte: Wolf war ein guter Onkel.

Friedelind Wagner erzählt in „Nacht über Bayreuth“, „wie Hitler und seine Nationalsozialisten Bayreuth und ganz Deutschland verpesteten“, und zwar in dieser Reihenfolge, völlig zurecht. Es sind die Memoiren eines gewissermaßen bis heute ungeliebten, unerkannten Kindes. Denn wer weiß heute, wer Friedelind Wagner war, Wielands kleine, Wolfgangs große Schwester? Friedelind entzog sich als einzige in Wahnfried Hitlers „Bann“. Sie war 26, als sie ihr Buch 1944 im New Yorker Exil veröffentlichte. Eine deutsche Übersetzung erschien 1945 in der Schweiz. Viel Aufsehen erregte sie nicht. Seitdem – so schreibt Eva Weissweiler im Nachwort der jetzigen Neuauflage – „ist das Buch so gründlich verschwunden, daß es nicht einmal in Universitätsbibliotheken zu finden ist.

Das Exemplar, auf das sich diese Ausgabe stützt, ist ein Unikat aus dem Exilarchiv der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main.“ Einzig in Spezialpublikationen friste es ein Fußnotendasein. Selbst seriöse und linke Historiker nannten das Buch „historisch höchst unzuverlässig“, womit sie einen Vorwurf verbreiteten, der aus durchsichtigen Gründen von der Wagner-Familie in die Welt gesetzt worden sei.

Weissweiler räumt ein, daß Friedelind Wagner in manchen Passagen schönt. Sie untertreibt den Nationalismus ihres vergötterten Vaters und verschweigt ihre eigene BDM-Mitgliedschaft. Das fällt gegenüber der Lebendigkeit ihrer Innenansichten allerdings kaum ins Gewicht.

Friedelind empfand sich wohl eher als die Tochter ihres Vaters, denn als die ihrer Mutter. Das Verhältnis zu Winifred war extrem gespannt. Als ungeliebtes Kind schreibt sie mit dem Scharfblick der unerwiderten Liebe. Ihrer Mutter galt sie als dicklich, aufsässig, schwer zu verheiraten, anders als das engelsgleiche Nesthäkchen Verena. Friedelinds Talente und ihr Ehrgeiz, gar ihre Lust auf Opernregie, kamen für Winifred nicht in Betracht. Wieland war der designierte Erbe, Friedelind wurde auf die Stenographie-Schule geschickt.

Diese Zurücksetzung mag ihr zur objektivierenden Distanz verholfen haben. Sie sieht Hitlers großartig gestikulierenden Hände und erkennt, daß er an den Nägeln

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kaut. Sie, das Königskind, kann beurteilen, daß sein Frack schlecht geschneidert ist, daß ein Revers höher abschließt als das andere, und wie linkisch er sich darin bewegt. Sie hört, wie Hitler in seinen Reden „nichts sagt“. Sie verfällt Hitlers Wirkung nicht, sondern sieht, wie die andern ihr verfallen: „Es hat mich immer wieder in Erstaunen versetzt, wie Leute zu Narren wurden, wenn sie in Hitlers Nähe kamen. Es wollte mir nicht in den Kopf, wieso Männer und Frauen, die sonst völlig normal zu sein schienen, in seiner Gegenwart offensichtlich den Verstand verloren, puterrot im Gesicht wurden, ihre Tassen fallen ließen und in hysterische Wein- oder Lachkrämpfe ausbrachen. Eines der merkwürdigsten Phänomene war, wie die Stimmen dieser Menschen durch den Führer verändert wurden. Oft hoben sie, wenn sie mit ihm sprachen, ihre Stimme ganz unbewußt um mindestens eine Oktave.“

Friedelind verbündet sich mit dem wütenden Antifaschisten Toscanini, mit der Sopranistin Frida Leider, die sich nicht von ihrem jüdischen Mann trennen will, mit dem schwulen Tenor Herbert Janssen – und nicht mit Frau von Manowarda, die sich von einem Juwelier ein goldenes Hakenkreuz auf den Handrücken applizieren läßt, nachdem Hitler ihr einen Handkuß gegeben hatte. „Schade daß er Sie nicht auf den Mund geküßt hat“, habe Janssen da gesagt.

Nicht nur wie politisch das Private ist, sondern auch wie privat das Politische, läßt sich an dem Buch studieren. Ist Friedelind emigriert – zunächst in die Schweiz, dann nach England und in die USA – oder hat sie nur vor dem Clinch mit ihrer Mutter und der drückenden Atmosphäre in Bayreuth die Flucht angetreten? Für sie selbst mag der private Bruch sogar die größere Rolle gespielt haben – zur politischen Tat wird er zuallererst von der anderen Seite erklärt. – Winifred reist ihr nach und überbringt ihr „den endgültigen Befehl des Führers zurückzukommen“. Auch ihre Brüder würden „schamrot, wenn die Leute von ihrer Schwester sprechen“. Und als Friedelind sich weigert zurückzukommen: „Du gehörst hinter Schloß und Riegel, und wenn du nicht hören willst, wird der Befehl erteilt, daß du bei der ersten Gelegenheit vertilgt und ausgerottet wirst.“

Friedelind blieb standhaft. 1940 war das Kriegsende nicht abzusehen – sie mußte sich mit dem Gedanken abfinden, das geliebte Bayreuth niemals wiederzusehen.

Daß sie recht hatte, wurde ihr nach dem Krieg selbstverständlich übelgenommen. Schnell ließ das bayerische Kultusministerium seine ursprüngliche Idee fallen, Friedelind und ihrem Cousin Franz Wilhelm Beidler als den beiden einzigen nicht kompromittierten Familienmitgliedern die Leitung der Festspiele zu übertragen und ihnen einen Beirat zur Seite zu stellen, dem unter anderen Thomas Mann, Adorno und Thomas Beecham angehören sollten. Winifred, Wieland und Wolfgang setzten sich durch. Wieland entnazifizierte die Wagner-Opern in seinen berühmten, teilweise, wie es heißt, hinreißend schönen Inszenierungen. Über seine persönliche Verstrickung aber äußerte er sich nie. Friedelind leitete zu dieser Zeit die Bayreuther Meisterklassen. Nach Wielands Tod erteilte ihr Wolfgang Hausverbot.

„Für die Wagner-Familie war Hitlers Triumph sehr stark auch ihr eigener“, schreibt Frederic Spotts in „Bayreuth – A History of the Wagner Festival“. Wie sehr dieser Triumph ein doppelter war – der von Hitlers Machtübernahme 1933 und der von Wielands und Wolfgangs Machtübernahme in Bayreuth nach dem Krieg –, erzählt Spotts' Buch in aller Ausführlichkeit. Es liefert die Außenansichten zu Friedelind Wagners Innenansichten der Festspiele und Wahnfrieds.

„Bayreuth ...“ ist eine Institutionen- und Inszenierungsgeschichte Bayreuths von der Uraufführung des „Rings“, 1876, bis heute. Die Kapitel über die Nazizeit sind, wie das ganze Buch, hervorragend dokumentiert. Offensichtlich durfte Spotts sogar den Briefwechsel zwischen Winifred Wagner und Hitler einsehen, den Weissweiler in „Nacht über Bayreuth“ noch als unzugänglich bezeichnet. Allerdings zitiert Spotts nicht daraus, sondern berichtet nur, „daß Winifred bei allen wichtigen Entscheidungen Hitler konsultierte“. Er scheint auch Einblick in Akten von Winifreds Entnazifizierungsprozeß erhalten zu haben: „Sie hatte in widerwärtiger Weise versucht, persönlich zu profitieren, indem sie den infamen Prager SS-Führer Karl Frank bat, ihr die konfiszierten Möbel tschechischer Juden zu geben, die ins KZ geschickt worden waren.“ – Spotts ist in erster Linie an der Bayreuther Inszenierungsgeschichte interessiert, ohne die politischen Aspekte seines Themas zu umgehen. Dankenswerterweise schreibt er sein Buch nicht als Musikwissenschaftler, sondern als Kenner, den es aus Liebe zur Materie trieb. Die Balance zwischen Begeisterung für Wagners Opern und die Bayreuther Festspiele und der Kritik daran hätte in dieser Souveränität und bei diesem Gegenstand kein deutscher Autor zu halten gewußt.

Aber leider geht auch Spotts kaum auf die Rolle Friedelind Wagners ein. Es ist wie bei den Dirigenten: Die emigrierten Dirigenten waren nach dem Krieg weniger populär als die Dirigenten, die geblieben waren, um die freigewordenen Stellen zu besetzen. Syberberg hat einen grandiosen Interviewfilm mit Winifred Wagner gemacht. Warum kam niemand auf die Idee, ihm einen ähnlichen Film mit Friedelind Wagner an die Seite zu stellen? Sie hätte manches Detail beisteuern können.

Friedelind Wagner ist 1991 gestorben.

Friedelind Wagner: „Nacht über Bayreuth. Die Geschichte der Enkelin Richard Wagners“. Dittrich- Verlag, 368 Seiten, 42,80 DM;

Frederic Spotts: „Bayreuth. A History of the Wagner Festival“. Yale University Press, 334 Seiten, zirka 100 DM