Schattenparlament wartet auf Auftritt

Eine Reise durch das neue Europaparlament: Gescheiterte Ehrgeizlinge, junge und alte Stars und Unkenntnis der eigenen Möglichkeiten / „Diesmal werden wir ein ernsthaftes Parlament“  ■ Aus Straßburg Alois Berger

Montag: Küßchen zum Abschied, ein paar Tränen und ein bißchen Nachtreten. Im großen Plenarsaal, vor spärlich besetzten Rängen, verabschiedet der ausscheidende Parlamentspräsident Egon Klepsch die ausscheidenden Europaabgeordneten. Ein alter FDP-Haudegen wärmt sich im kleinen Kreis an dem Gedanken, daß die Ehrgeizlinge, die ihn auf einen aussichtslosen Listenplatz gesetzt hatten, selbst am Wähler gescheitert sind. Eine Grüne, der nur fünf Jahre in Straßburg vergönnt waren, findet es unter vier Augen unhaltbar, daß Pensionsansprüche erst nach der zweiten Wiederwahl gewährt werden.

Gegen Abend werden die Fernsehleute hektisch. Die Stars unter den Gewählten treffen ein. Nana Mouskouri flötet, daß sie eigentlich von Politik nichts verstehe, aber den konservativen Freunden von der griechischen Nea Demokratia eine Freude machen wollte. Der christsoziale Kaiserenkel Otto von Habsburg, inzwischen 81, begrüßt und umarmt alte Freunde und macht im Überschwang der Gefühle auch vor dem belgischen Neofaschisten Karel Dillen nicht halt. Bernard Tapie stolziert im Foyer immer dieselbe telegene Strecke ab und genießt die Immunität des Abgeordnetenmandates, die ihm zu Hause in Frankreich viel Ärger mit den lästigen Fahndern von der Betrugsabteilung ersparen soll. Um zu zeigen, daß er trotz des feinen Zweireihers keiner von den Pinkeln ist, schnaubt und prustet er vor sich hin: schlechte Manieren als Ausweis für Volksnähe.

Dienstag: Frühstück mit einem Abgeordneten, der im Parlament übernachtet hat. Der Name soll hier verschwiegen werden, weil das zwar nicht ganz unüblich, aber offensichtlich anrüchig ist. Dabei sind alle Abgeordnetenbüros zum Arbeiten und zum Schlafen eingerichtet: auf 18 Quadratmetern ein Schreibtisch, Stuhl, Schlafcouch und Naßzelle aus Schkopau. Die Lustlosigkeit, mit der die meisten Abgeordneten ihre Büros ausstatten, gibt der Grundidee recht, daß Aufwand für die paar Tage nicht lohnt.

Das Parlament tagt nur fünf Tage im Monat in Straßburg, alles andere, die Arbeit in den Ausschüssen, Delegationen et cetera findet in Brüssel statt, wo gerade für vier Milliarden Mark ein noch kühnerer Parlamentsbau in den Himmel wächst. Auch in Straßburg wird neu gebaut, weil das Europaratsgebäude, in dem das Parlament sich jeden Monat für die paar Tage einmietet, nach der Erweiterung der EU zu klein sein wird.

Das Parlament hat sich vor kurzem mehrheitlich gegen den zehrenden Reisezirkus und für Brüssel als endgültigen Sitz ausgesprochen, konnte sich aber gegen die französischen Widerstände bisher nicht durchsetzen. Brüssel und Straßburg zementieren den Streit durch gezielte Bauwut, und damit das Parlament auch künftig bereit ist, in zwei Städten Miete zu zahlen, finden alle Fraktions- und sonstigen Vorsitzenden in ihrem Büro bei jeder Ankunft eine Flasche Champagner für den Herrn und ein Blumenbukett für die Dame vor, mit freundlichen Grüßen von der Straßburger Bürgermeisterin.

An normalen Tagen würde auch der alte Europaratssaal weiter ausreichen, weil sowieso nie alle da sind. In Frankreich beispielsweise ist es durchaus üblich, daß die Euro-Parlamentarier auch noch irgendwo Bürgermeisterämter bekleiden und nicht soviel Zeit haben, was auf der anderen Seite den Vorteil hat, daß Euro-Politiker wie Rocard, Tapie, Kouchner auch zu Hause bekannt sind.

Nur diesmal sind alle da. Listen müssen unterschrieben, Ausweise abgeholt werden und die Telefonkarten, mit denen man kostenlos mit der Welt kommunizieren kann. Gegen Mittag drängen sie alle in den großen Plenarsaal, wo der neue Parlamentspräsident bestimmt wird. Erstaunlicherweise wählen sie mit dem Sozialdemokraten Klaus Hänsch wieder einen Deutschen, obwohl die Erfahrungen mit dem übervorsichtigen Vorgänger Klepsch nicht so toll waren und Abwechslung in der Nationalität eigentlich zum Grundkonsens bei der Vergabe europäischer Ämter gehört. Gerhard Schmid von der SPD findet die Wahl seines Parteifreundes deshalb einen kleinen Fortschritt. Weil endlich einmal die unbestrittene Eignung und nicht der Personalausweis honoriert worden sei.

Unter großem Beifall und mit gebührender Strenge im Blick mahnt Hänsch die Abgeordneten, sie sollten sich endlich auf die wirklichen Probleme Europas konzentrieren und nicht tagelang um die Lautstärke von Rasenmähern oder die Höhe von Überrollbügeln an Traktoren streiten. Als es dann wenig später um die Benennung seines 14. Stellvertreters geht, müssen die Abgeordneten doch wieder lange debattieren. Nachdem die ersten 13 Vizepräsidenten nach der Fraktionsstärke zugeteilt werden, kann der letzte erst nach einer Kampfabstimmung und im dritten Wahlgang entschieden werden.

Aufgelockert wird die lange Sitzung durch die vielen kleinen Stehparties, mit denen sich einige von den rund 300 neuen Abgeordneten vorstellen. Meist wird zum Sekt auch bedrucktes Papier gereicht, auf dem der Neuling schriftlich zusagt, das Parlament endlich auf Trab zu bringen.

Mittwoch: Zu den vielen Tonnen Papier, das an allen Ecken ausliegt und Aufschluß über alte Wahlergebnisse und neue Telefonnummern, über gehaltene Abstimmungen und über geplante Reden gibt, kommen am Nachmittag noch die Listen über die Fraktionszusammenschlüsse dazu. Weil größere Fraktionen mehr Rechte bei der Besetzung der wichtigen Ausschüsse haben, wurde wieder in viele saure Äpfel gebissen. Erste Überraschung: Die Liberale Fraktion nimmt ausgerechnet die sechs italienischen Abgeordneten der Lega Nord in ihren Reihen auf.

Im Gegensatz zu den Liberalen gibt sich der Verbund der christdemokratischen Parteien, die EVP, noch keine Blöße und verzichtet vorerst darauf, die 27 Berlusconis der Forza Italia einzugliedern. Die treten als eigene Fraktion auf, bis für die EVP die Schamfrist abgelaufen ist.

Berlusconi hat bereits Verständnis gezeigt, daß die CDU erst die Bundestagswahl abwarten will, bevor sie sich mit der Forza Italia in einer Fraktion zeigen kann. Überhaupt wird die ganze erste Woche vorwiegend über die Mannschaftsaufstellung geredet werden müssen. Ausschüsse sind zu besetzen und Delegationen zusammenzustellen. Der Agrarausschuß etwa soll vor allem die Agrarbeschlüsse des Ministerrates und die Arbeit der Kommission bei der Umsetzung dieser Beschlüsse kontrollieren. Die wichtigen Entscheidungen fallen ohnehin in den Ausschüssen, weil da die Experten der Parteien drinsitzen, das Parlament segnet das Ganze in der Regel nur noch ab. Da ist es dann schon entscheidend, ob Fachkräfte aus der Landwirtschaft drin sind oder Leute, die Pestizide für entbehrlich halten. Delegationen dagegen sind vorwiegend für die Außenpolitik zuständig, beispielsweise für die Zusammenarbeit mit den Asean-Staaten. Weil das Parlament in der Außenpolitik sowieso nicht viel zu sagen hat, wird da mit der Sitzverteilung auch etwas lockerer umgegangen, obwohl es schon schön ist, wenn man aufgrund seiner Funktion öfter in Ostasien zu tun hat.

Daniel Cohn-Bendit wird die Euro-Grünen im Kulturausschuß vertreten. Einige in der Fraktion haben aber Zweifel, ob er sich da wirklich reinhängen wird, weil er schon längst für eine andere Aufgabe sprüht. Mit dem französischen Arzt und Ex-Entwicklungsminister Bernard Kouchner, den er noch aus den wilden 68er-Zeiten in Paris kennt, will er eine informelle Intergroup zur vorbeugenden Konfliktvermeidung gründen. Bosnien, Ruanda, Haiti, sie hätten es satt, immer nachher nach der Feuerwehr zu schreien, obwohl doch die meisten Krisenherde schon vorher Rauchzeichen sendeten. Mindestens zehn Leute hätten sie schon zusammen, und im September würden sie loslegen und das Parlament mal so richtig bearbeiten. Wie das genau aussehen soll, kann Daniel aber jetzt nicht erklären, weil er gerade jemanden gesehen hat, den er von früher kennt und mit dem er unbedingt ein paar Takte reden muß. So wie übrigens die meisten Abgeordneten dauernd auf dem Sprung sind, alte und neue Freunde zu treffen.

Donnerstag: Das Parlament bereitet sich auf seinen ersten Höhepunkt vor. Die Fraktionschefin der Sozialisten, Pauline Green, hat die halbe Nacht daran gearbeitet, ihre 198 Leute darauf einzuschwören, den Luxemburger Jacques Santer als künftigen Brüsseler Kommissionspräsidenten abzulehnen. Auch in den anderen Fraktionen wurde bis spät in die Nacht diskutiert. Als Pauline Green am Morgen die Stimmungsbilder in den zehn Fraktionen zusammenrechnet, geht ein Lauffeuer durch die Flure: Santer wird gekippt. Zum erstenmal in seiner Geschichte hat das Parlament so viel Macht, einen Kommissionspräsidenten abzulehnen, und zum erstenmal scheint es wild entschlossen, diese Macht auch zu zeigen.

Aber dann bröckelt die Front. Vor allem die dänischen, die griechischen und die spanischen Sozialisten stehen unter Druck. Felipe González, der sozialistische Regierungschef Spaniens, hat seine Leute telefonisch daran erinnert, daß er im Ministerrat für Santer gestimmt hat. Die spanischen Sozialisten wissen Bescheid. Es gibt keine europäischen Parteien, es gibt nur nationale Parteien, und dort werden auch die Listen für Europaabgeordnete aufgestellt. Bei der namentlichen Abstimmung bekommt Santer 47 sozialistische Stimmen und wird mit 22 Stimmen Vorsprung gewählt.

Weil sich trotzdem erstaunlich viele Abgeordnete als resistent gegenüber den Wünschen der Heimatpartei gezeigt haben, gilt die Abstimmung als großer Erfolg auf dem Weg zu einem richtigen Parlament. „Wir wissen jetzt,“ ermuntert sich ein belgischer Volksvertreter, „daß wir mehr erreichen können, als wir uns bisher zugetraut haben.“

Freitag: Die meisten sind bereits abgereist. Die Tagesordnung ist kurz, die Plenarsitzung dauert nur wenige Minuten. Die knapp hundert Anwesenden dürfen zwei technische Fragen zur Parlamentsarbeit entscheiden, bevor auch sie ihre Schreibtische leeren und die Siebensachen in die bunten Blechkisten packen, die auf den Fluren herumstehen. Die der Abgeordneten werden vom Parlamentsdienst nach Brüssel verschickt, wo nächste Woche die Ausschüsse tagen, die der Funktionäre nach Luxemburg, wo aus Gründen der hohen Politik die Verwaltung des Parlaments ihren Sitz hat.

David Bowe sitzt als einer der letzten in seinem Büro. Er genießt es, in der plötzlich eingekehrten Ruhe die Anspannung der letzten Tage abflauen zu lassen, und schmökert im Maastricht-Brevier. Höllisch kompliziert, sagt er und schätzt, daß kaum einer der Abgeordneten wirklich weiß, bei welchen Gesetzen das Parlament nun mitreden darf und bei welchen nicht. In Brüssel ist deshalb nächste Woche ein Seminar für Abgeordnete über die Rechte des Parlaments angesetzt. Aber vieles könne man nicht lernen, meint Bowe und grinst, man müsse es ausprobieren, „so wie gestern“.

Bowe ist zum zweitenmal für Labour in Straßburg. „Wir haben zuletzt viele Fehler gemacht“, sagt er, „wie oft haben wir gute Sachen niedergestimmt, weil wir zuviel wollten?“ Die Rechten hätten sich gefreut, und die Linken hätten dazugelernt. Und dann stemmt er die Faust gegen die Tischkante: „Diesmal werden wir ein ernsthaftes Parlament sein.“