■ Mobilitätswahn, Ozon und die Tempolimit-Diskussion
: Wie lächerlich das alles

Wir haben wieder ein (Wahlkampf-)Thema: Ozon und Tempolimit. Die unsichtbare Gasattacke erregt immer häufiger die Gemüter. Und die vereinten Wahlkämpfer dieses unseres Landes springen auf den Ozon-Zug, denn schließlich möchte man im Oktober auch seinen Gewinn verbuchen. „Totalreglementierung auf deutschen Straßen“ (FDP-Chef Klaus Kinkel) oder „freie Fahrt für freie Bürger“ stehen zu Wahl.

Wie also möchten wir es denn gern, mit welchem Tempo soll unsere Autogesellschaft kollabieren? Mit 80 oder 90 Stundenkilometern auf der Landstraße oder „in der Regel“ (Rudolf Scharping) mit 130 auf der Autobahn? Welche Richtung wollen unsere Volksvertreter bei ihrem ökonomischen und ökologischen Crash-Kurs einschlagen? Oder haben die extrem hohen Ozon-Werte und die Rekorde in der Arbeitslosenstatistik nichts miteinander zu tun? Nein, wir plädieren mit der „Machtmaschine“ Kohl und Straßenminister Wissmann für den freien Fall der freien Bürger. Selbstverständlich mit Sicherheitsgurt, doppeltem Luftsack und allianzversichert!

Angesichts der Dimension der zunehmenden Zerstörung unserer Umwelt, angesichts des derzeitigen wirtschaftlichen Zusammenbruchs und des sozialen Niedergangs in Deutschland erscheint das derzeitige Ozon-Gerede wie ein schönes Ablenkungsmanöver. Wie lächerlich wird diese „Diskussion“ in fünf oder zehn Jahren wirken, wenn ganz andere Einschränkungen gelten? Wie lächerlich müßte sie auch heute schon wirken, denn im größten Autoland, den USA, gehört ein strenges Tempolimit bereits seit den Ölkrisen in den siebziger Jahren zum Alltag.

Die Herrscher über die bundesdeutsche Fahrzeugindustrie können sich derweil auf einsamen Inseln mit geringen Ozon-Werten über das scheinbar unendliche Hin und Her der Ozon-Debatte amüsieren. Sie selbst halten sich vornehm heraus. Das Schmutzgeschäft übernehmen brav die Lobbyisten. VW-Chef Ferdinand Piäch hat schließlich andere Sorgen. Der Mann, der den Konkurrenzkampf gern mit militärischen Formeln beschreibt, denkt darüber nach, wie er den nächsten Kampf gewinnt und sein „Schlachtfeld“ kennt genausowenig Grenzen wie die Umweltgifte, die seine Autos täglich produzieren. Dabei wäre für den Technik-Freak der Ein-Liter-Wagen technisch kein Problem. Allein: so etwas rechnet sich nicht. Schließlich müssen sich die alten Investitionen erst einmal amortisiert haben. Nur in der Kfz- Werbung werden Natur und Umwelt groß geschrieben. Scheibchenweise verkauft man dann Jahr für Jahr ein bißchen mehr Ökologie im Auto, auch wenn die Verbesserung noch so lächerlich ist.

Selbst bei bestehender Fahrzeugdichte könnte der Ausstoß von Stickoxiden, der wichtigsten Vorläufersubstanz des Reizgases Ozon, erheblich reduziert werden. Zusammen mit einem strengen Tempolimit und wirksamen Fahrverboten würde die Qualität der Luft damit erheblich verbessert. Und zwar sofort. Dringend nötig wären auch Einschränkungen und Veränderungen bei der ebenfalls Ozon verursachenden Produktion von Autos und anderen Gütern. Vor allem die flüchtigen Kohlenwasserstoffe, die unsere Industriebetriebe täglich tonnenweise freisetzt, tragen zur Ozonbildung bei. Doch die Herren Piäch, Reuter und Co. haben es im Krisenjahr 1994 nicht einmal nötig, sich dazu öffentlich zu äußern. Auch die meisten Medien und viele Umweltschützer scheuen klare Worte.

Bündnisse für eine Umkehr sind nicht in Sicht und dies, obwohl auch nach den jüngsten Befragungen die Mehrheit der Bevölkerung Geschwindigkeitsbegrenzungen oder einen autofreien Sonntag befürworten würde. Warum startet beispielsweise BUND eine „Großoffensive“ gegen das Reizgas Ozon, ohne andere Gruppen mit einzubeziehen oder sie gegebenenfalls in die Pflicht zu nehmen? Können Teile der Gewerkschaften nicht als Partner gewonnen werden? Und warum gehen derartige Initiativen – von Ausnahmen abgesehen – nicht von den Kirchen aus, die doch unsere Schöpfung erhalten wollen?

Ein politischer Wechsel in Bonn dürfte da kaum etwas ändern. Scharping persönlich warf das Tempolimit aus dem SPD- Wahlprogramm und die Erhöhung der Mineralölsteuer wird wohl auf Eis gelegt. Dabei kommen sich die rosaroten Wahlkämpfer auch noch als Vertreter der Automobilarbeiter vor. Doch die Diskussion in der IG Metall ist längst weiter – auch in Automobil-Regionen wie Baden- Württemberg. Gerhard Zambelli, der Bezirksleiter im Südwesten, fordert ohne jede Einschränkung ein Tempolimit von 130 für Autobahnen sowie eine stufenweise Anhebung der Benzinpreise. Zambelli kritisiert neben den Politikern auch die Manager der Automobilindustrie, die sich dagegen so vehement sperren.

Wenn es allerdings zum Schwur kommt, könnte so mancher Gewerkschafter wieder umkippen. Jüngstes Beispiel: Karl Feuerstein, Gesamtbetriebsratsvorsitzender von Daimler-Benz, der sich zusammen mit Straßenminister Matthias Wissmann in der ARD-Sendung „Pro+Contra“ vor einem Millionenpublikum gegen die Erhöhung des Benzinpreises ausspricht. Die Krise sitzt den Betriebsräten im Nacken. Und dabei gehen sie offenkundig den billigen Argumenten ihrer Vorstände schneller auf den Leim als sonst.

Niemand mehr kann heute den ökologischen, ökonomischen und sozialen Niedergang unserer Autogesellschaft übersehen. Der Traum vom ewigen Wachstum ist zum Alptraum geworden. Das Mobilste, das der Mensch geschaffen hat, Geld, vagabundiert unkontrolliert in der Welt herum. Und das Sinnbild dieser Mobilität, das Auto, droht zur schlimmsten Destruktionskraft der kommenden Jahre zu werden. Es setzt nicht nur tonnenweise Blech und Kunststoff in Bewegung, sondern auch Giftstoffe der verschiedensten Art. Auch deren Mobilität kennt keine Grenzen.

Und um so mobiler werden die Menschen, die als Flüchtlinge oder Arbeitslose meist vergeblich dem Geld und dem Traum vom Auto hinterherlaufen. Mobilität total. „Anything goes“, der Wahlspruch der Postmoderne gilt – so verstanden – fürs Geld und den dazugehörigen Fetisch, die Mobilität und deren giftige Exkremente. Doch niemand weiß, wohin die angehäuften Billiarden gehen, welche Formen der Mobilitätswahn noch annehmen wird und was die gefährlichen Ausscheidungen noch alles zerstören.

Es geht also nicht um Ozon, einen Stoff, der übrigens so mobil ist, daß er sich immer wieder auflöst, um sich später neu zu bilden. Nein, es geht um die Frage, was jenseits der Logik unserer Geld- und Autogesellschaft entstehen könnte.

Reparaturen an der bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise helfen nicht mehr, auch eine radikale Minderung der Ozon-Werte würde nur eines von vielen Problemen lösen. Ein tiefer Einschnitt ist unausweichlich geworden. Nur, wer macht ihn? Hermann G. Abmayr

Der Stuttgarter Journalist, Film- und Buchautor ist Herausgeber des soeben erschienenen Buches „Der große Crash – der Kollaps unserer Autogesellschaft.“