Unbequeme Leute ohne Auto

■ In der Grünenstraße wird das erste genossenschaftliche, soziale und autofreie Wohnprojekt gebaut

Eine Utopie menschlichen Lebens verwirklichen 42 Leute in der Neustädter Grünenstraße. Zwischen 56 Wochen und 56 Jahren alt, verschiedener Nationalität und Herkunft, RollstuhlfahrerIn, arbeitslos oder im Berufsstreß, wagen sie zusammen ein Experiment, das seit rund hundert Jahren StädterInnen bewegt: Zusammenleben. „Es war nicht leicht, unsere verschiedenen Wohnvorstellungen in ein gemeinsames Projekt zu bringen“, sagt Pit Klasen. Der Architekt ist seit 1987 bei der Wohnprojektgruppe. Damals hatten sich 12 Männer und Frauen zusammengetan, um alternative Wohnformen zum Betonklotz zu entwickeln. Aus der bunten Gruppe von einst, mit wilden und manchmal unrealistischen Ideen, ist mittlerweile die „anders wohnen Wohnungsgenossenschaft“ geworden.

Bis zur Genossenschaftsgründung war es ein langer Marsch durch die Institutionen. Da die meisten der GenossenschaftlerInnen nur über wenig Geld verfügen, war schnell klar, daß das Haus nur mit öffentlicher Unterstützung gebaut werden kann. Nachdem die „anders wohnerInnen“ 1991 endlich das Grundstück Grünenstraße gefunden hatten, feilschten sie um jede Mark von der Baubehörde: Eine Landesbürgschaft finanziert jetzt zu 80 Prozent das Projekthaus. 20.000 Mark müssen die GenossenschaftlerInnen pro erwachsenem Kopf selbst aufbringen und rund 500 Stunden auf dem Bau tapezieren, kacheln oder malen. Das spart immerhin ein Viertel der Eigenkapitalquote. Da die Genossenschaft Besitzerin und Vermieterin der Wohnungen ist, zahlen die BewohnerInnen das Haus über die Miete ab. Einige Wohnungen werden als Sozialwohnungen von der Stadt bezuschußt werden.

„Ich vergesse immer, was wir in den letzten sechseinhalb Jahren alles geschafft haben“, sagt Pit und guckt sich zufrieden im Bauwagen auf der Baustelle Grünenstraße um. Seit Frühjahr diesen Jahres baut die Genossenschaft dort ein vierstöckiges Haus mit ausgedehnter Dachterasse und Gemeinschaftsräumen im Keller. Jedem Menschen stehen 30 Quadratmeter zu, egal ob in einer Ein-Zimmer-Wohnung oder in einer Vier-Zimmer-Gemeinschaftswohnung. „Wir haben alle verschiedene Bedürfnisse“, meint Achim Bellgart. Deswegen sei es wichtig gewesen, daß alle genau überlegt haben, wie sie wohnen möchten.

Im Rohbau in der Grünenstraße können die GenossenschaftlerInnen die halbrunde Konstruktion schon betrachten und die Wohnungsaufteilung bis zum ersten Stock erahnen. „Im Erdgeschoß sind die zwei Rolli-Wohnungen, die brauchen natürlich mehr Platz“, erklärt Achim. Die Wohnungen liegen nebeneinander, vor ihren Türen erstreckt sich wie vor allen anderen auch ein Wintergarten. Alle Zwischenwände und Türstürze im Haus sind schon jetzt so gebaut, daß sie später leicht wieder rauszunehmen sind. „Wenn mal Leute in einer Wohnung zusammenwohnen wollen. Man kann auch später leicht wieder eine Wand einsetzen - falls die Beziehung kaputtgeht, oder so“, meint Achim. „Wir wollen uns alle Möglichkeiten offenlassen“, ergänzt Pit. Dieses Prinzip ist Programm.

Die GenossenschaftlerInnen bauen schon mal Haltevorrichtungen und Leitungsschächte für eine spätere Solaranlage ins Haus ein. Momentan reiche einfach das Geld nicht. Immerhin konnten sie sich eine Regen- und Brauchwasseranlage für die Klospülungen und die Waschmaschinen leisten.

Eigentlich wollten von Anfang an alle autofrei wohnen. Diskussionen gab es dann aber doch. Jetzt steht das Credo in der Genossenschaftsatzung: Wohnung nur ohne Auto. Wegen der Stellplatzabgabe gab es lange Verhandlungen mit der Stadt, die schließlich nachgab. „Wir sind unbequeme Leute, die sich was zutrauen. Deswegen haben wir auch soviel erreicht“, meint Pit.

In seinem Bauwagenbüro hat er eine Liste mit interessierten NachrückerInnen. Pit und Achim fänden es gut, wenn ihr Projekt viele NachahmerInnen findet und wollen ihre Erfahrungen auf jeden Fall weitergeben. Für die Zeit nach dem Einzug im Herbst 1995 haben die GenossenschaftlerInnen auch schon Pläne entwickelt. Eine Food-Coop oder eine gemeinsame Bibliothek könnte entstehen. Vielleicht wollen sie sich auch in die Neustädter Kommunalpolitik einmischen. „Von uns wird man noch hören“, meint Pit und guckt nochmal zufrieden auf den Bau.

fok