Eine Ich-Ästhetik in nacktem Beton

Statt High-Tech zu bauen, suchen japanische Architekten nach mehr Benutzerfreundlichkeit  ■ Von Robert Kaltenbrunner

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Architektur Japans als eine der dominierenden Kräfte das Bauen der Welt beeinflußt, besonders die postmodernen und „dekonstruktivistischen“ Architekturen des Okzidents. Zunächst kaum bemerkt – sieht man mal vom Großmeister Kenzo Tange ab –, feiert die Fachwelt die japanische Avantgarde inzwischen als vehemente Reformer, deren zum vielbeschäftigten Star avancierter Arata Isozaki als „Guerilla-Architekt“ geführt wird. Er selbst bezeichnet seine Bauten gern als „perfekte Verbrechen“ – wenngleich die US-Amerikaner sein Museum of Contemporary Art in Los Angeles als das genaue Gegenteil loben, als ideales Gehäuse für die Kunst. Ohne Zweifel personifizierte Isozaki in den letzten dreißig Jahren eine fast symbiotische Entwicklung. Ihm war und ist es ein besonderes Anliegen, die Rolle der westlichen Tradition in der japanischen Kultur zu erkunden, ebenso wie er Impulse in den Westen trug.

Nikolaus Pevsner hat einmal gesagt, die japanische Architektur hätte ihre entscheidenden Anstöße Ende der fünfziger Jahre durch Le Corbusier erhalten. Diese Zeiten, das macht spätestens der zweite Blick deutlich, sind vorbei. Westliche Idole haben heute zumeist keinen großen Stellenwert mehr. In der – für unsere Augen – amorphen und inkonsistenten „Struktur“ der japanischen Metropole haben die Architekten seit Ende der siebziger Jahre zunehmend erkannt, daß eine vermittelnde Beziehung zwischen Gebäude und Stadt schlichtweg nicht mehr existiert. Die Stadt habe kein plausibles Gefüge mehr, sei statt dessen Flickwerk geworden, oder, um einen Ausdruck von Hajime Yatsuka in Anlehnung an Deleuze/Guattari zu gebrauchen, „organloser Körper“. Eine introvertierte, defensive Baukultur ist die naheliegende Konsequenz.

Weltkugel von hoher Benutzerfreundlichkeit

So zeugen die meisten Entwürfe von einer merkwürdigen Umkehrung des Städtebaus: Innerhalb selbständiger Gebäude werden paradoxe Stadtmodelle geschaffen. Der eine baut „bedeutungslose Maschinen, die dann neue Bedeutung in der Architektur annehmen“ (Kazuo Shinohara), den zweiten verleitet „ideologische Unsicherheit“ zu einer Formensprache, die kein Zentrum anerkennt (Kisho Kurokawa), der dritte beschwört den verfänglichen Symbolismus von Fragmenten, um „wie ein Gegenschock oder Sabotageakt in der Stadt zu wirken“ (Shin Takamatsu), andere schließlich bevorzugen die großartige und theatralische Geste, teils von „bühnenhafter Leichtigkeit“ (Fumihiko Maki, einst Gründungsmitglied der Metabolisten), teils als „Architektur ohne Ironie“ (Arata Isozaki). Und all das sind lediglich Facetten dessen, was zeitgenössische japanische Architekten erschaffen.

Das Kulturzentrum von Shonondai in einem der tristen Vororte Tokios stammt von Itsuko Hasegawa, Japans wohl renommiertester Architektin. Ein Bürgertheater als Weltkugel, die eingestreuten Workshops als Anhäufung von Kristallen: Kein Wunder, daß ihr spektakuläres Projekt sich seit Jahren einer internationalen Reputation erfreut. Sie selbst kommentiert ihre Entwürfe als „das Öffnen der Architektur durch die Kommunikation“. Der Kritiker Taki Koji bewertet sie, daran angelehnt, als ein „dialog-begründetes Programm“. Von dem Wohnhaus in Nerima (1986) zum STM Building in Tokio (1992), vom Shiranui Krankenhaus in Omuta (1990), einer flachen, vielgliedrigen Anlage von hoher Benutzerfreundlichkeit, bis zur Sumida-Kultur-„Fabrik“ in Tokio (1992) wird eine beeindruckende Bandbreite an Konzeptionen entfaltet.

Hasegawa steht an avantgardistischer Front, als Frau in einer Reihe von Männern. Deren Bauten sind, unterm Strich, von einer seltsamen Ambiguität geprägt: Auf der einen Seite passen sie sich der Stadt an, auf der anderen stellen sie sich deren Ansprüchen entgegen, so daß Grenzlinien zwischen kreativen und kritischen Prozessen verwischen. Wollten diese Architekten zuvor die Regeln eines architektonischen Schachspiels neu formulieren, so versuchen sie nun, sie zu brechen und das ganze Spiel in Frage zu stellen. Ihre Absicht ist es, „die geschlossenen, in sich beschränkten Schaltkreise der Bedeutung aufzubrechen“ (B. Bognar).

Die modernen Baumeister suchen zumeist nicht nach einer Kontextbestimmung. Immer aber ist, zumindest implizit, die urbane Landschaft ein Thema. Aber nicht länger wie bei den Nachfolgern der Metabolisten, die ihre Aufgabe sinngemäß in der Flucht vor dem städtebaulichen Chaos suchten, sondern im Aufspüren von „Zwischenräumen“, sprich: Nischen. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der engen Beziehungen zwischen Natur und Architektur ist eine dieser Lücken, durch die Architekten den heutigen urbanen und kulturellen Zwängen zu entkommen trachten. Die neueren Bauten von Hiroshi Hara, Riken Yamamoto, Toyo Ito, Hasegawa und natürlich Tadeo Ando sind fast ausnahmslos Kommentare über die Natur anhand und bezüglich der Baukunst.

Der Autodidakt Tadao Ando schafft vorsätzlich „erschwerte Bedingungen“ in nacktem Beton, um den Bewohnern Gelegenheit zur Wiedererlangung von „Würde und geistigem Frieden“ zu geben. Und der einzelgängerische Kazuo Shinohara etwa strebt nichts Geringeres an als „die Ewigkeit“, die „Stufe Null“, den „reinen, fundamentalen Raum“ – wobei es ihn verdrießt, daß er auch für dieses Abstraktum immer noch konkrete Wände braucht.

Schon seit einiger Zeit hält sich die Behauptung, daß der Vorrang an Rationalität in der Architektur deren Leistung entwertet und vom Massenpublikum abgeschnitten hat. Heute kann experimentelle Architektur kaum mehr mit öffentlicher Unterstützung oder Zustimmung rechnen, weil sie keine Gefühle anzusprechen vermag.

Indem – um es exemplarisch zu machen – Tadao Ando wohlbegründeten Prinzipien folgt, indem er mit seiner Architektur methodisch den „Referenzwert der Geschichte“ anerkennt (ohne dabei in Eklektizismus zu verfallen), schuf er zumindest die Voraussetzung für die Wiederentdeckung dieser zurückliegenden emotionalen Kraft. Daß seine Bauten und Projekte bei einem breiten Publikum bislang kaum Anerkennung gefunden haben, hängt wohl eher mit der Kompromißlosigkeit ihrer Formensprache zusammen.

Doch ganz ohne Wurzeln kommen selbst die radikalsten Künstler nicht aus. Neuere Untersuchungen des japanischen Raumkonzeptes und -verständnisses offenbaren eine erstaunliche Nähe zu althergebrachten Verhaltensmustern. Sie zeigen einen engen Verbund, mental und physiologisch, mit genuinen Riten der Gesellschaft von Shinto bis heute. Zwei Bänder laufen augenscheinlich, auch und gerade im „Raum“, gleichberechtigt nebeneinander: technologiebesessene Neuzeit auf der einen, und schier uneinnehmbare Bastionen der Tradition auf der anderen Seite.

Bauen als Annäherung an „die Ewigkeit“

Gibt es eine gemeinsame Linie innerhalb der Avantgarde? Ihre Protagonisten: Sie protestieren, mit und anhand ihrer Arbeit, gegen alles, was laut und hektisch ist im neuen Japan, was zu schäbig ist, zu oberflächlich und konsumorientiert, also gemein und menschenunwürdig aus ihrer Sicht. Sie lehnen sich – vermeintlich – gegen fast alles auf. Gegen das Chaos, die Anarchie des Bodenmarktes, das zerstörerische Durcheinander in Japans großen Städten setzen sie Zeichen der Besinnung, schaffen Räume von klösterlicher Abgeschiedenheit. Gegen die Aggressionen einer rücksichtslosen Umwelt kapseln sie sich mit Häusern von ausgeprägt selbstbezogenem Charakter ab. Dabei beherrscht kein Dogma das Werk der jungen Avantgarde, vielmehr gilt ein unausgesprochener Pluralismus, und jeder folgt seiner eigenen Philosophie. Kein Stil, kein Kodex, nicht einmal ein Konsens – es sei denn der, daß die Welt ziellos und die Stadt amorph und unerträglich geworden sei.

Natürlich könnte man anführen, daß all dies künstlerische Wollen auf einer heutzutage recht populären Erkenntnis beruht: daß der Glaube an die Formbarkeit und das Wissen um die Machbarkeit der Welt mit der Unfähigkeit korreliert, die Folgeentwicklung zu beherrschen. „Weil die Produktion der Dinge abstrakten Gesetzen folgt“, so beispielsweise Hajime Yatsuka, „unterwerfen sie die Lebenswelt.“ Deshalb plädiert die Mehrzahl dieser Architekten für eine radikale Rückkehr zum Subjekt. Der Mensch sollte Vertrauen und Kreativität in sich selbst begründen. Es geht um Selbstbestimmung, um die Gestaltung des eigenen Lebens, um das (in sich) selbstbewußte Tun. Und die Konsequenz? Ein derart reflektiertes Machen entwirft die Dinge nach dem Kriterium ihres Gebrauchs und nicht in der

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Erwartung eines abstrakten Wertes. Reine Oberflächengestaltung ist keinesfalls akzeptabel. Der Aufruf lautet implizit: Man möge nicht nach ewigen Antworten, nach einem, wenn nicht dem Stil suchen, sondern die richtige Lösung von Fall zu Fall.

Dabei bleibt die Festlegung auf einen Stadtbegriff jedoch weitgehend offen: Sind die äußeren Formen, die materielle Gestalt der Stadt, oder sind ihre Atmosphäre, ihre auch durch den Raum beeinflußten Assoziationsketten die Stimuli dieser Künstler? Viele von ihnen gehen, nach eigenem Bekunden, davon aus, „daß die Metropole ein Mosaik von Raumfragmenten wird (!)“. Hier spiegelt sich ein Mißverständnis wider, das zweifellos eine Gefahr in sich birgt: Als philosophische Reflexion mag das Urteil angehen, als Zukunftsprojektion jedoch ist dies für den Architekten, den Gestalter der Umwelt, kaum eine taugliche Strategie. Wahrscheinlich ohne es zu wollen, redet die japanische Avantgarde einer weiteren Fragmentierung der Stadt das Wort – und bietet dafür ihre Ideallösungen feil.

Im Tohuwabohu von Tokio kämpfen zwölf Millionen Menschen um jeden Quadratzentimeter. Nirgends sonst ist die Wirklichkeit so weit entfernt von den Visionen ambitionierter Städtebauer wie in dieser wüsten Collage aus Hütten und Wolkenkratzern, Hochstraßen und Freileitungen, einem Durcheinander von Farben und Formen, Lichtern und Reklamen – erschüttert von Verkehrsstößen und durchdrungen von dauerndem Lärm. Gerade an diesem Beispiel wird manifest, daß die bevorzugten „Themen“ der Architekten in sich ein Problem darstellen: Die Bilder jener Stadt, die ihre Zeichnungen und Projekte evozieren, sind mitunter voller Eindringlichkeit, aber auch, so perfekt sie ab ovo auch sein mögen, verstreute Solitäre und deswegen höchst unvollkommen. Das „Begraben der Stadt in der Architektur“, wie es Itsuko Hasegawa apodiktisch in Worte kleidet: es funktioniert einfach nicht. Ästhetische Hüllen werden als symbolische Ausdrucksformen einer inneren Wahrheit angepriesen, ohne daß sie wirklich einen neuen Zugang zur Komplexität der Stadt ermöglichen.

Damit sollen keineswegs die Qualitäten verunglimpft werden. Spannendes, Schönes, Asketisches und Ephemeres gibt es zuhauf. „In dieser Architektur“, so glaubt B. Bognar konzedieren zu können, „ist die Totalität unbeständig, brüchig und dauernd von Auflösung bedroht“. Um so besser, daß sie unsere vergängliche Realität so effektvoll zu akzentuieren vermag.

„From Shinto to Ando. Studies in Architectural Anthropology in Japan“. Nitschke Academy Editions, London/Berlin 1994. 144 Seiten, 82 DM

„Contemporary Japanese Architects“. Taschen Verlag, Köln 1993. 176 Seiten, 29,95 DM

„Itsuko Hasegawa“. Architectural Monographs No.31, London/Berlin, 1993. 146 Seiten, 57 DM