Psychogramm eines Mitläufers

Fressen und gefressen werden: der polnische Schriftsteller Andrzej Zaniewski hat die Bekenntnisse einer Ratte aufgezeichnet – eine Parabel  ■ Von Peter Laudenbach

Die Geschichte dieses Buches hat es in sich: 1979 in Polen geschrieben, blieb das Manuskript fünfzehn Jahre gut versteckt in der Schublade, überdauerte das Kriegsrecht und das Ende der Diktatur, erschien aber auch danach nicht etwa auf polnisch, sondern zuerst in Auszügen in einer tschechischen Zeitschrift. Dort entdeckte die Schriftstellerin Libuše Moniková den Text, empfahl ihn ihrem deutschen Verlag, der die Weltrechte erwarb und Übersetzungen in die halbe, in die westliche Welt, von Finnland bis in die USA, verkaufte.

Nicht nach Polen. Dort nämlich genießt der Autor keinen besonders guten Ruf: Andrzej Zaniewski war Parteimitglied, nun ja. Schon unappetitlicher ist, daß er sich nicht zu schade war, in den unter dem Kriegsrecht neugegründeten Schriftstellerverband einzutreten, ein Verein, den das Regime aus dem Boden stampfte, nachdem es den alten, vorsichtig auf Reformen drängenden Verband zerschlagen hatte. Wer dem Jaruzelski-Verein beitrat, konnte sich den Luxus allzu großer moralischer Integrität nicht leisten. Spätestens seit dieser Zeit traut man in der demokratischen Intelligenzija Polens Zaniewski auch zu, daß er sich etwas zu intim mit dem Staatsapparat der Diktatur eingelassen hat.

Ein renommierter Schriftsteller formuliert es vorsichtig so: „Zaniewski hat sicher seine Erfahrungen mit dem Geheimdienst.“ Die Formulierung ist nicht zufällig so ambivalent: „Ich kann mir vorstellen, daß sie Druck auf ihn ausgeübt haben. Vielleicht hat man ihn erpreßt.“ Kein polnischer Sascha Anderson also, sondern sozusagen ein integrer Zuträger: „Jeder wußte, wo er steht. Er hat es jedem gesagt.“ Einerseits. Andererseits erzählt ein Dissident, der während des Kriegsrechts Redakteur der Untergrundzeitung Wezwanie war, eine bezeichnende Anekdote über Zaniewski: Er trifft ihn in dieser Zeit zufällig auf der Straße, und Zaniewski sagt so unbestimmt wie in dieser Situation unmißverständlich: „Macht weiter.“ Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Das alles wäre nicht weiter aufregend, wenn Zaniewski nicht einen so düsteren und großartigen Roman geschrieben hätte, dessen gespenstische Tiefendimension sich erst erschließt, wenn man weiß, welche politisch-biographische Erfahrung hier formuliert ist. „Die Ratte“ ist, zumindest an der Oberfläche, nichts anderes als die Autobiographie eines Tieres: das Leben einer Ratte, von ihr selbst erzählt. Eine relativ simple literarische Versuchsanordnung, die Zaniewski benutzt, um ein außerordentlich grausames Weltbild zu formulieren. Nichts ist selbstverständlicher als der Tod, der Hunger, die Mordlust in diesem Ratten-Universum. Nur wer Angst hat, wer andere totbeißt, wer stark ist, hat eine Überlebenschance.

Eine Jugenderinnerung: „Ich wachse, werde kräftiger. Bin imstande, mich als erster an die milchprallen Zitzen zu drängeln und die, die neben mir krabbeln, beiseite zu stoßen. Ich schubse sie weg, versperre ihnen den Weg, und wenn keine Milch mehr in der Drüse ist, zwänge ich mich mit meinem ganzen Gewicht durch zur nächsten.“ Als ein Rattenjunges nach einer Exkursion mit einem fremden Geruch ins Nest zurückkommt, beißen es die Geschwister tot, eine erste Lektion im Töten.

Die Autobiographie ist ein klassischer Bildungsroman. Wir verfolgen, wie sich der jungen Ratte die Welt der Keller und Abwässerkanäle erschließt, und wie sie lernt, was sie zum Überleben braucht: „Du brauchst diese Angst, sie wird dich schützen und retten. Lerne dich zu fürchten.“ Als die Ratte größer wird, beißt sie ihren Vater tot und begattet die Mutter. Das gleiche Schicksal wird die erzählende Ratte am Ende treffen: Getötet vom Sohn, der die Mutter begattet.

Zaniewski spielt gerne mit vertrauten Mythenmotiven, von Ödipus über den Rattenfänger von Hameln bis zu einem Gekreuzigten, dessen Blut die durstige Ratte gerne trinken möchte. Wahrscheinlich gegen die Intention des Autors lesen sich diese Bildungsreminiszenzen im Ratten-Universum wie die gelehrten Anspielungen in Becketts Werk: Sie werden zu „Kulturmüll“ (Adorno), eine Schutthalde, die nur zeigt, was in dieser Welt endgültig zerstört ist. Leben schmilzt zusammen auf den monotonen Singsang, der Eliots „Sweeney Agonists“ durchzieht: „Geburt und Paarung und Tod./ das ist alles, das ist alles, das ist alles,/ Geburt und Paarung und Tod.“ Weil das „alles“ ist, rauscht das Rattenleben vorüber wie im Abenteuerroman: Auch dort bleiben die Gefahren und Kämpfe der Identität des Helden äußerlich. Sind die Heldentaten im Abenteuerroman nur Illustrationen der Größe des Helden, so sind die Reisen und Verfolgungsjagden, die Verstecke und der Blutrausch, durch die Zaniewski seine Ratte jagt, stets Variationen seines zentralen Themas: das Überleben und die ständige Angst. „Das ist alles.“ Deshalb auch verlieren die erlesenen Grausamkeiten bald alle oberflächliche Schockwirkung, deshalb gelingt es so mühelos, sich mit der erzählenden Ratte zu identifizieren. Wenn eine Horde Ratten einem Menschen, der sich im Kellerverlies verirrt hat, die Schlagader durchbeißt und sich durch seine Eingeweide wühlt, wenn die Ratte die eigene Brut tötet, wenn eine Rättin die Brut der Tochter frißt, sind das nicht grelle Schocks, sondern innerhalb des Roman-Universums normale Vorgänge.

Die List und die endlosen Reisen der Wanderratte, das Überleben inmitten ungreifbarer, immer neuer Gefahren, verweist auf ein mythologisches Muster: Odysseus. Adornos Frage, ob der Preis, den Odysseus für seine schlaue Selbsterhaltung zahlen müsse, sein „Selbst“ sei, ob nur überleben könne, wer sich ständig und ausschließlich an die Notwendigkeiten des Überlebens richtet, hat Zaniewski mit einiger Konsequenz beantwortet: Die Frage nach der Identität hat sich in seinem Ratten- Universum erledigt. Identität schmilzt zusammen auf den Wunsch zu überleben. Ständig kalkuliert die Ratte, wie Odysseus, dieser Held der instrumentellen Vernunft, die Chancen im Überlebenskampf, ständig wägt sie ab: Welches Versteck ist besser, habe ich eine Chance gegen diesen Gegner, wohin kann ich fliehen.

Mit dem Wissen um die Biographie des Mannes, der diesen niederschmetternden und, um es noch einmal zu sagen, großartigen Roman geschrieben hat, liest man ihn als Parabel auf das Leben und Überleben in totalitären Systemen. Natürlich geht der Roman nicht in dieser Parabel auf, natürlich liefert er auch ein Bild für eine existentielle Grundsituation, quasi ein negativer Existenzialismus. Selbst die diktaturerfahrene Libuše Moniková, die vor über zwanzig Jahren aus der CSSR in den Westen emigrierte, las ihn, da sie Zaniewskis Biographie nicht kannte, so. Daß ausgerechnet sie, die nie mit der Diktatur paktierte, diesem Buch zum Durchbruch verhalf, ist von einiger schwarzer Ironie. Sie wird, als sie erfuhr, wer der Autor ist, aus allen Wolken gefallen sein.

Wenn man die Biographie Zaniewskis kennt, sieht man die politische Dimension so deutlich formuliert, daß es schwerfällt, nicht von einer radikalen (und bewunderungswürdigen) Selbstreflexion des Autors zu sprechen. Das dürfte auch der Grund dafür sein, daß Zaniewski, ein in Polen bekannter Lyriker und Feuilletonist, seinen Roman unter dem alten Regime nicht veröffentlichen konnte: Zu offenkundig wäre für jeden polnischen Leser gewesen, daß hier ein Mitläufer sein eigenes Psychogramm geschrieben hat, ein Psychogramm, das die Verhältnisse seziert, die ständige Angst, Mißtrauen und latente Panik zur Überlebensbedingung machen. Ein ängstlicher Insasse einer Diktatur schreibt einen Roman, dessen Ich- Erzähler eine Ratte ist ...

Vor dem eigentlichen Roman kommentiert der Autor sein Projekt in einem merkwürdigen Vorwort: Er wirbt um Verständnis für seine Ratten-Faszination. Der Kitsch dieses Selbstkommentars, in dem Zaniewski von einer Versöhnung zwischen Mensch und Tier fabuliert und sich über Pelzmäntel empört, ist leicht dechiffrierbar. Wenn Zaniewski davon spricht, Ratten, diese „Geschöpfe von der Größe und dem Gewicht unseres Herzens“, seien Verwandte des Menschen, geht es nicht um die süßliche Walt-Disney-Vermenschlichung des Tiers, sondern ums Gegenteil: Die Zerstörung des Glaubens, Menschen seien von der Ratten- Brutalität, der Ratten-Angst, dem panischen Überlebenskampf der Ratten so weit entfernt, wie sie gerne glauben möchten. „Wir wollen das nicht wahrhaben in unserer scheinbar sauberen Menschenwelt.“

In der sauberen, moralisch scheinbar widerspruchsfrei in Dissidenten und Opportunisten zu ordnenden Welt der Diktatur spricht Zaniewski vom verdeckten Schmutz, und damit spricht er natürlich unüberhörbar auch von sich selbst und seiner Angst. Er macht Ernst mit dem guten alten Topos der Frage nach dem menschlichen Verhalten in Extremsituationen, er benutzt die literarische Versuchsanordnung zum Selbstgespräch, das sich keinen Illusionen über die eigene Integrität hingibt: „In den Forschungslabyrinthen verhält sich jede Ratte anders, offenbart ihre Fähigkeiten und Schwächen – sie gibt auf, flüchtet, weicht zurück, oder sie sucht (...) nach einem Ausweg, trifft eine Wahl, dünne Wände durchnagend, um neue Labyrinthe anzulegen oder zu entdecken.“ Im „Forschungslabyrinth“ des Totalitarismus hat auch Zaniewski seine „Wahl“ getroffen, auf der Suche nach einem Ausweg „dünne Wände durchnagend, um neue Labyrinthe anzulegen.“ Wer in der „sauberen Menschenwelt“ Westeuropas lebt, hat kein Recht, darauf den ersten Stein zu werfen.

Andrzej Zaniewski: „Die Ratte“. Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann. Hanser Verlag, 208 Seiten, geb., 29,80 Mark