Eine Praktikerin aus der Generation der Erbinnen

■ 100 Jahre Frauenbewegung (letzter Teil): Hilde Lion, Direktorin von A. Salomons Akademie

Hilde Lion zählt schon zur dritten Generation der alten Frauenbewegung. Zum Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) stieß sie 1916 im Alter von 23 Jahren, nachdem sie bei einer Versammlung Gertrud Bäumer hatte reden hören. Lion war von ihr begeistert.

Am Erscheinungsbild des BDF hatte sie allerdings einiges auszusetzen: der Verein ersticke in Formalien, man müsse von den steifen Formen der Versammlung wegkommen und die alten Damen wüßten nicht, was die jungen Frauen wollten. Nach den Erfolgen der Frauenbewegung mußten in den zwanziger Jahren die Ziele neu bestimmt werden. Neben der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ging es nun um die Definition einer eigenständigen weiblichen Identität. „Für diese Frage stand Hilde Lion“, sagt die Wiesbadener Fachhochschulprofessorin Monika Simmel-Joachim, die über die völlig in Vergessenheit Geratene forscht. Ehemalige Schüler hätten sie als Persönlichkeit mit sehr starker Ausstrahlung beschrieben. „Sie hat es außerdem verstanden, immer die richtigen Leute miteinander in Kontakt zu bringen.“ Simmel-Joachim zählt Lion schon zur „Generation der Erbinnen“. Ihre Dissertation schrieb Lion über die „Soziologie der Frauenbewegung“ und interviewte dafür unter anderem Clara Zetkin.

Anders als ihre Vorkämpferinnen war Lion keine Agitatorin. Sie sah sich nicht als Führungsfigur, sondern als Praktikerin, die sich der Sozialarbeit verschrieben hatte. 1925 kam die gebürtige Hamburgerin als Lehrerin nach Berlin. Im Jugendheim Charlottenburg, das von seiner Gründerin Anna von Giercke geleitet wurde, bildete sie Erzieherinnen und Jugendleiterinnen aus. Drei Jahre später wechselte sie an die von Alice Salomon gegründete Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. 1929 wurde sie Direktorin der Akademie, einem der renommiertesten Projekte der Frauenbewegung in der Weimarer Zeit.

Doch ihre Karriere endete abrupt. Am 9. Mai 1933 wurde die Akademie auf Antrag von Alice Salomon aufgelöst. Nach der Machtergreifung der Nazis war nicht zu erwarten, daß die finanzielle Basis oder die Eigenständigkeit der Ausbildungsinhalte gesichert waren. Außerdem war Alice Salomon unter Druck gesetzt worden, Hilde Lion wegen ihrer jüdischen Herkunft ihres Amtes zu entheben. Daraufhin legte auch Salomon ihr Amt nieder.

Lion, die keine jüdische Identität hatte, sah sich damit konfrontiert, von den Nazis zur Jüdin gestempelt zu werden. Im November 1933 reiste sie nach London. Hier ergab sich die Möglichkeit, auf dem Landsitz einer Quäkerin eine Internatsschule für deutsche Flüchtlingskinder einzurichten. Ab März 1934 wurden die ersten aufgenommen, die vor allem aus Mischehen stammten. Trotz ständiger finanzieller Schwierigkeiten hatte die Stoatley Rough School fünf Jahre später bereits 100 SchülerInnen. Zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Emmy Wolff leitete Lion die Schule, bis sie 1960 geschlossen wurde.

An eine Rückkehr hat Hilde Lion nicht mehr gedacht. Schon 1939 stand für sie fest, daß sie die britische Staatsangehörigkeit annimmt. Mit ihrer Generation brach die Alte Frauenbewegung in Deutschland ab. Dorothee Winden