Ein Prozeß mit mehr als drei Jahren Verspätung

■ Unglaubliche Schlampereien bei den Ermittlungen verzögern den Prozeß gegen eine Skinhead-Bande in Magdeburg / Brutaler Überfall auf Blumenhändler

Magdeburg (taz) – Für den 35jährigen Hasan Cagla nahm das Leben nach dem 1. September 1991 eine grundlegende Wende. In dieser Nacht erlebte er am eigenen Leib, wie es ist, dem Tod ins Auge zu sehen. Rund zwanzig Skinheads hatten ihn und drei seiner Verwandten auf einem Parkplatz, wenige Kilometer nördlich von Magdeburg, überfallen. Die vier Türken, die als reisende Blumenverkäufer unterwegs waren, übernachteten auf diesem Parkplatz in ihren Autos.

Hasan Cagla wurde bei dem Überfall, vermutlich durch ein Geschoß aus einer Leuchtpistole, in Brand geschossen. Nach den Gutachten zweier Krankenhäuser hat der 35jährige es nur der schnellen ärztlichen Hilfe zu verdanken, daß er den brutalen Überfall überhaupt überlebt hat. Er erlitt Verbrennungen dritten Grades an zwanzig Prozent der Körperoberfläche, Schädelprellungen mit Hirnblutungen, Rippenbrüche und eine zeitweilige Nervenlähmung. Die Schulter und der Arm sind von Brandnarben bedeckt, auch zwei Hauttransplantationen konnten die durch die Narben verursachten Schmerzen bislang nicht lindern. Der Überfall war Höhe- und Schlußpunkt einer ganzen Serie ausländerfeindlicher und rechtsradikaler Gewalttaten im Spätsommer 1991. Ein Punker, der Opfer eines weiteren Überfalls der Gruppe wurde, wurde durch Schläge und Tritte an den Kopf so schwer verletzt, daß er im Krankenhaus mehrfach wiederbelebt werden mußte. Erst gestern, mehr als drei Jahre nach den brutalen Überfällen, begann der Prozeß gegen die ersten fünf Skinheads.

Für die Staatsanwaltschaft war die Anklageerhebung ein echtes Puzzlespiel. Denn die polizeilichen Ermittlungen sind mehr als schlampig geführt worden. Das geht aus den Ermittlungsakten hervor, die der taz vorliegen. Eine erste Spurensuche nach dem Überfall auf die Türken in der Nacht brachte nicht viel. Erst im dritten Anlauf, drei Tage nach der Tat, konnten entscheidende Beweismittel gesichert werden, unter anderem verbrannte Kleidungsstücke. Diese wurden aber bis heute nicht kriminaltechnisch untersucht. Eine derartige Untersuchung, mit der geklärt werden soll, ob Hasan C. tatsächlich durch ein Leuchtspurgeschoß in Brand gesetzt wurde, gab die Vorsitzende Richterin gestern erst in Auftrag.

Auch mit den Beschuldigtenvernehmungen nahmen sich die Beamten damals sehr viel Zeit, noch mehr aber mit den Konsequenzen. In den Vernehmungen zu dem Überfall auf die Türken taucht immer wieder der Name von Elmar H. auf, einem stadtbekannten Oberbrutalo der Skinheadszene. Mehrere Beteiligte an dem Überfall sagen aus, daß H. dort mit einer Leuchtpistole um sich geschossen habe. Beschlagnahmt wurde sie dennoch nicht, nicht einmal eine Hausdurchsuchung bei Elmar H. gab es. Sogar auf die Vernehmung von Elmar H. verzichtete die Polizei, nachdem dieser zwei Vorladungen nicht Folge geleistet hatte.

Im Mai 1992 beteilgte sich Elmar H. dann an dem Skinheadüberfall auf eine friedliche Punkerparty in dem Lokal „Elbterrassen“, bei dem der 23jährige Torsten L. erschlagen wurde. Für diesen Überfall, bei dem er ebenfalls mit einer Leuchtpistole um sich geschossen hat, ist Elmar H. bereits verurteilt. Das Jugendschöffengericht wird jetzt herauszufinden haben, ob H. bei dem Überfall auf die Türken womöglich nicht nur in die Luft geschossen hat. In der gestern eröffneten Hauptverhandlung sitzt er aber noch nicht auf der Anklagebank, sein Prozeß steht noch aus.

Eine der fünf Angeklagten ist gestern gar nicht erst zur Verhandlung erschienen. Nicht einmal die Verteidigerin wußte etwas über den Verbleib ihrer Mandantin. „Meine Schreiben an sie kamen alle mit dem Vermerk ,unbekannt‘ zurück“, sagte die Anwältin. Um weitere Verzögerungen zu vermeiden, trennte die Richterin das Verfahren gegen Annette S. ab. Gegen sie soll in einem der beiden anderen Prozesse verhandelt werden, die nach der Serie ausländerfeindlicher und rechtsradikaler Gewalttaten dieser Skinheadgruppe im Spätsommer 91 noch ausstehen.

Die Aussagen der Beschuldigten in ihren polizeilichen Vernehmungen sind zum Teil sehr widersprüchlich. „Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Polizei, daß in Nachfragen bei den Vernehmungen diesen Widersprüchen nicht nachgegangen wurde“, findet Gregor Kochhan, der die türkischen Opfer der Skinheads als Nebenkläger vertritt. Möglicherweise deshalb mußte Kochhan mehr als sechs Monate warten, bis er als Nebenklägervertreter endlich Einsicht in die Ermittlungsakten erhielt. „Und sehr merkwürdig ist überdies, daß in den Prozeßakten, die ich bekommen habe, nicht eine einzige haftrichterliche Vernehmung enthalten ist.“ Für ihn als Nebenklägervertreter wäre das ein wichtiges Beweismittel. „Die Aussagen in den Beschuldigtenvernehmungen vor der Polizei können die Angeklagten widerrufen, die Aussagen vor dem Haftrichter könnte man ihnen im Prozeß vorhalten.“

Ob das Gericht jemals aufklären kann, wer Hasan Cagla in Brand geschossen hat, bleibt fraglich. Die Angeklagten berufen sich auf Gedächtnisschund und auf alkoholbedingte Filmrisse zum Zeitpunkt der Taten. Frühere detaillierte Geständnisse nahmen sie teilweise zurück. Eberhard Löblich