Das lange Warten an der Hungerkralle

Mit viel militärischen Ehren, viel Wehmut, reichlich Blumen und wenig Berliner Volk verabschiedeten sich gestern die westalliierten Soldaten aus dem regnerischen Berlin  ■ Von Anita Kugler und Bascha Mika

Hubschrauber mit gewaltigen Halogenscheinwerfern kreisen seit dem frühen Morgen über Berlin. Ihre Lichter fallen auf das Schloß Charlottenburg, auf das Luftbrückendenkmal in Tempelhof, auf das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Dieser Donnerstag ist ein großer Tag für Berlin, sagen die Chronisten, und er ist auch ein großer Tag für die Polizei.

Sicherheitsstufe „Eins“. Über 5.000 Polizisten sind im Einsatz, dazu noch Einheiten des Bundesgrenzschutzes. Die Straßen sind abgesperrt, selbst die Freiheit der Fußgänger ist eingeschränkt. Denn an diesen „Ereignisorten“, wie es im Protokoll der Bundesregierung heißt, wird mit Staats- und Feierakten die fast fünfzigjährige Präsenz der Westalliierten in Berlin beendet. Zum „Good bye“ und „Au revoir“ sind die Regierungschefs John Major aus England, François Mitterrand aus Frankreich und in Vertretung von Bill Clinton der Außenminister Warren Christopher gekommen.

Viel Zeit haben die Herren nicht, der Staatsbesuch soll fix über die Bühne gehen. Gegen Mittag fliegen sie ein, rauschen im Fünf- Minuten-Takt mit viel Blaulicht zum Charlottenburger Schloß. Nur Mitterrand bringt die vom Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt ausgeklügelte Protokollordnung durcheinander. Er verspätet sich etwas, und Helmut Kohl, der am Schloßtor wartet, nestelt alle paar Sekunden sein Jackett glatt.

Das Mittagessen mit dem Bundeskanzler, dem Außen- und dem Verteidigungsminister steht auf dem Programm, doch vor dem Aperitif muß erst das militärische Zeremoniell bewältigt werden. Für jeden Staatsmann extra. Im Schloßhof stehen kleine Bundeswehrkompanien von Heer, Marine und Luftwaffe stramm, der rote Teppich ist ausgerollt, die Nationalhymnen erklingen.

Fern ab des Geschehens warten einige Dutzend BerlinerInnen. Selbst die politische Linke wird wehmütig. Wie schön war doch die bundeswehrfreie Zeit. Dafür waren 6.000 Amerikaner, 3.500 Briten und knapp 3.000 Franzosen in Westberlin stationiert, jetzt rangeln Land und Bund um ihre Wohnungen. Nun, wo alle weg sind, und auch damit das Abschiedsfinale noch etwas international aussieht, wurden eigens Abschiedssoldaten eingeflogen. Am Luftbrückendenkmal stehen sie Spalier.

Eine gekrümmte Betonplatte ist das, die in drei Zacken ausläuft, mehr als 20 Meter hoch, die „Hungerkralle“. Heute ist die Kralle bunt geschmückt. Blumen rundherum, amerikanische, britische, französische und deutsche Luftwaffeneinheiten daneben, Stuhlreihen mit den Ehrengästen davor. Es nieselt, und der gemeine Berliner ist nicht geladen. Die Zuschauer sind weit abgedrängt und warten hinter Barrikaden.

Dabei wäre gerade das Luftbrückendenkmal der richtige Ort für ein Volksfest zum Abschied der Alliierten gewesen. Denn der Berliner erinnert sich gern an die Luftbrücke. „Damals, als der Osten uns abgeschmiert hat, haben wir uns nicht unterkriegen lassen“, grinst Heinrich H., 81 Jahre.

Am 24. Juni 1948 riegelten die Sowjets Berlin ab, nichts kam in den Westsektor hinein – außer durch die Luft. Ab 26. Juni begann erst die amerikanische, dann auch die britische Luftwaffe, Berlin per Flugzeug zu versorgen. Elf Blockademonate lang. Manchmal 1.300 Flüge in 24 Stunden.

Und heute senkt sich der „Geist der Luftbrücke“ noch einmal nieder. Das Stabsmusikcorps der Bundeswehr spielt das Lied „Vom guten Kameraden“, Soldaten präsentieren das Gewehr, die Politiker treten einer nach dem anderen vor und ordnen brav die Schleifen an den Kränzen. Nur einige Autohupen im Hintergrund stören die Bedächtigkeit.

Die Herren reden vom „Sieg der Freiheit über die Unfreiheit“ (Diepgen), vom „Besatzer zum Freund“ und „Nie vergessen“ (Kohl), und von der „Courage der Berliner“ (Major). „Was wir nicht ändern können, macht uns groß!“ gibt François Léotard als Einsicht zum besten. Und John Major erhebt sogar ein wenig die Stimme, als er zum Abschluß ruft: „We are proud to play our parts.“ Alle Politiker halten sich ungewöhnlich kurz in ihren Reden.

Heinrich H. mag die Amerikaner, „spätestens seit der Luftbrücke“. Aber daß die alliierten Truppen jetzt abziehen, findet er richtig.

Bei dem politischen Finale, dem Festakt im Schauspielhaus, müssen die Berliner draußen bleiben. Aber Helmut Kohls Dank wird über alle Fernsehstationen der westlichen Welt live übertragen. „Heute bei Ihrem Abschied aus Berlin“, sagt er, „können wir sagen: Die Freiheit hat gewonnen.“ Beharrlichkeit habe sich ausgezahlt und das Festhalten am Vier- Mächte-Status endlich zur Überwindung der Teilung geführt. Vor acht Tagen wurden die Russen verabschiedet. Auch dabei wurde viel über Freundschaft geredet, vor allem über die zukünftige. Bei den Reden von Helmut Kohl und John Major hingegen überwogen Reminiszenzen und Dankbarkeit. Der Begriff „Schutzmächte“ fehlte in keinem Manuskript. Und natürlich nicht, daß das Überleben Westberlins den Soldaten der Alliierten, der „Weisheit der Staatsmänner und dem Mut unserer Völker zu verdanken“ ist (Major).

Entschieden weniger besinnlich deutete sich das Abendprogramm an. Am Nachmittag verkündete die Polizei, daß sie jeden Demonstranten, der den Großen Zapfenstreich der Bundeswehr für die Alliierten am Brandenburger Tor stören will, festnehmen wird. Von diesen Begleiterscheinungen werden die Staatsmänner nichts merken. Ihre Flugzeuge müssen noch vor Beginn des Nachtflugverbots abheben. Am Himmel gilt der Ausnahmezustand nicht.