Das neue, andere Brasilien

Vor den allgemeinen Wahlen am 3. Oktober kämpft Brasilien darum, sich von Korruption, Gewalt und Ungerechtigkeit zu befreien. Impressionen  ■ von Astrid Prange

„Dreh die Fensterscheibe ein bißchen weiter runter, bitte!“ Belo Horizonte, morgens um acht Uhr: Ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Häftling bettelt an einer Straßenkreuzung um Geld. Er gesteht dem Fahrer eines klapprigen Käfers, daß er aus Eifersucht den Liebhaber seiner Frau umgebracht hat. Almosen für einen Mörder? Das hat noch gefehlt. Der Autofahrer starrt auf die Ampel. Sobald sie Grün zeigt, drückt er das Gaspedal durch.

Montes Claros, morgens um vier Uhr am Busbahnhof: Ein Krüppel schnappt sich mit seinen Krücken eine pralle Plastiktüte, die seit mehreren Stunden verlassen auf einem Stuhl liegt. Als er an einem riesigen Aschenbecher vorbeischleift, reißt ein Mann mit Aktenkoffer ihm die Tüte aus der Hand, und er stürzt mit voller Wucht in den Haufen abgebrannter Kippen. Der Polizist, der auf dem Busbahnhof der Kleinstadt Nachtwache schiebt, tritt dem Mann in den Bauch und schleift ihn bis zum Ausgang durch die Wartehalle.

Alltag in Brasilien. Szenen einer brutalen Klassengesellschaft. Und doch: Das größte Land Lateinamerikas ist dabei, der Willkür des „Wilden Westens“ den Rücken zu kehren. Der Umbruch spiegelt sich in den Kampagnen für die allgemeinen Wahlen am 3. Oktober wider. Dann entscheiden rund hundert Millionen Wahlberechtigte über die neue Zusammensetzung des Kongresses und der 27 Länderparlamente und wählen zugleich ein neues Staatsoberhaupt sowie 27 Gouverneure.

Das andere Brasilien beginnt unmittelbar hinter dem Busbahnhof der Kleinstadt Montes Claros im Norden des Bundesstaates Minas Gerais. „Die Sklavenarbeit bei der Produktion von Holzkohle ist zu 80 Prozent beseitigt“, bilanziert der Rechtsanwalt Luis Chaves in seiner Kanzlei zufrieden. Noch bis vor einem Monat arbeitete der 38jährige im brasilianischen Arbeitsministerium und lehrte die Besitzer der Eukalyptusplantagen in der Region das Fürchten. Durch überraschende Besuche zwang der Regierungsvertreter die Holzkohleproduzenten dazu, die Lohnsteuerkarte ihrer Angestellten zu unterzeichnen, ihnen Trinkwasser zur Verfügung zu stellen und ihnen Lohn statt Naturalien zu zahlen.

Noch immer schuften rund 40.000 Tagelöhner in der Region unter menschenunwürdigen Bedingungen. Das Ehepaar Carlos und Maria dos Angos mit seinen sechs Kindern überlebt inmitten der beißenden Rauchschwaden ewig brennender Öfen unter einem Dach aus Palmen und Plastik. Keines der Kinder geht zur Schule. Damit das Holz nicht zu Asche wird, muß die Familie die 38 tönernen Öfen rund um die Uhr kontrollieren. Bezahlt wird nur der Mann. „Findest du nicht, daß ich auch etwas verdienen müßte?“ fragt Maria dos Angos den Besucher von der Landpastorale. Alvimar Ribeiro Santos versucht, die Tagelöhner zum Kampf um bessere Arbeitsbedingungen zu animieren.

Bis vor kurzem waren die katholische Kirche und vereinzelte Landarbeitergewerkschaften die einzigen, die sich für das Schicksal der Arbeiter auf den Eukalyptusplantagen interessierten. „Erst nachdem die brasilianische Presse die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen mit aufsehenerregenden Fotos national verbreitete, bewegte sich etwas“, erinnert sich Luis Chaves. Im Landtag vom Bundesstaat Minas Gerais wurde eine parlamentarische Untersuchungskommission zum Thema Sklaverei einberufen. Regierungsvertreter inspizierten die Arbeitsbedingungen vor Ort.

Die zweihundert Familien aus dem „Quilombo-Fluß der Frösche“, 800 Kilometer von Rio entfernt, haben sich auf die Suche nach ihrer eigenen Geschichte begeben. Vor vier Jahren entdeckten Anthropologen und Historiker von der Universität aus der Hauptstadt Brasilia, daß es sich bei Siedlern am „Fluß der Frösche“ um Nachfahren entflohener Sklaven handelte. Nach brasilianischem Recht steht Quilombo-Bewohnern dasselbe Recht wie den Indianern zu: Ihr traditioneller Lebensraum ist unveräußerlich und steht unter dem Schutz des Staates.

Der Kampf um die Eintragung ihrer Gebiete, gefördert von der katholischen Kirche, hat den zweihundert Familien bereits zahlreiche Probleme beschert: Großgrundbesitzer Carlos Bonfim, der das fruchtbare Land am Ufer des brasilianischen Flusses „Rio San Francisco“ für sich beansprucht, walzte mit seinen Traktoren die bescheidenen Holzhütten der ehemaligen Sklaven nieder und zerstörte ihre Mais- und Reisfelder. „Wenn dieser Bonfim erst einmal weggeht, dann öffnen sich für uns neue Horizonte“, beschreibt „Seu“ Francisco die Hoffnungen der Quilombo-Bewohner. Die Zeit läuft zugunsten der ehemaligen Sklaven: Im November vergangenen Jahres klagte Brasiliens oberster Staatsanwalt, Aristides Junqueira, beim Bund die in der brasilianischen Verfassung von 1988 verbrieften Rechte der Quilombo- Nachfahren ein.

Bis vor kurzem wußten die Siedler am „Fluß der Frösche“ nichts über ihre Rechte. So wie ihnen ergeht es der Mehrheit der über drei Millionen brasilianischen Hausmädchen, Landarbeiter, Tagelöhner. Doch die Bedeutung von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen wächst, und das Rechtsbewußtsein auch. Seminare für Unternehmer aus dem Industriedreieck von São Paulo über Verhandlungsstrategien mit Gewerkschaftsführern oder die Bewältigung von Massenstreiks zum Beispiel wären vor kurzem noch undenkbar gewesen.

In Rio de Janeiro gelang der Fernsehspielautorin Gloria Perez eine klassenübergreifende Initiative. Innerhalb von nur drei Monaten sammelte die Schriftstellerin, deren Tochter im vergangenen Jahr in Rio ermordet wurde, zusammen mit zahlreichen Frauen aus allen Schichten, die ebenfalls Opfer der unberechenbaren Gewalt geworden waren, 1,3 Millionen Unterschriften. Das Volksbegehren, das für vorsätzlichen Mord rigorosere Strafen als bisher vorsieht, wurde vom brasilianischen Kongreß verabschiedet und in der vergangenen Woche vom Staatsoberhaupt Itamar Franco sanktioniert.

„Bei einem guten Anwalt werden aus dreißig Jahren Haftstrafe fünf Jahre, wenn es sich um einen Erstangeklagten handelt“, erklärt Gloria Perez. „Dies bedeutet, daß im Gefängnis ausschließlich Arme sitzen.“ Durch die Gesetzesänderung ist nun bei vorsätzlichem Mord auch für Erstangeklagte jegliche Form der Begnadigung oder die Abzahlung der Strafe untersagt. Zwar ist die erfolgreiche Petition der Fernsehautorin ein schwacher Trost für den Verlust ihrer Tochter. „Doch immerhin“, so Gloria Perez, „kann man mit einer zielgerichteten Mobilisierung Veränderungen erreichen.“

Seit der zwangsweisen Amtsenthebung des damaligen Präsidenten Fernando Collor Ende 1992 ist Gerechtigkeit zu einem der Hauptthemen brasilianischer Politik geworden. Zu den Versprechen des jetzigen Wahlkampfes gehören nicht nur Brot und Arbeit, sondern auch ciadadania. Das Zauberwort steht für das Ideal des politisch mündigen Bürgers, der seine Rechte kennt und sie einfordert. Der Kampf gegen Korruption und Klientelismus, der erstmals in Lateinamerika einen Präsidenten zu Fall brachte, sorgt im diesjährigen Wahlkampf für eine höheres Niveau als 1989. Eine einwandfreie Vergangenheit ist die Mindestvoraussetzung für einen Präsidentschaftskandidaten. Diese Bedingung erfüllen beide Kontrahenten: Luis Inacio Lula da Silva, Kandidat der brasilianischen Arbeiterpartei PT, sowie Fernando Henrique Cardoso, der für eine große Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen antritt.

„Sowohl Lula als auch Fernando Henrique Cardoso stehen für dieses neue Brasilien“, meint der Politikwissenschaftler Sergio Abranches. „Lula plant die dringend notwendigen sozialen Reformen, die Brasilien zu einem Binnenmarkt für Massenkonsum machen. Die Antiprivatisierungspolitik der PT bedeutet allerdings Rückschritte“, meint Abranches. Fernando Henrique Cardoso steht nach Ansicht des Politikwissenschaftlers einerseits für Brasiliens Mittelschicht, die den internationalen Wettbewerb befürwortet, und gleichzeitig für die Interessen der nationalen Industrie, die sich der Öffnung des brasilianischen Marktes vehement widersetzt.

„Egal wer gewinnt, die nächste Regierung wird eine Art Milk- Shake“, meint der Politikprofessor. Sollte Cardosos Regierung mehr neoliberal als sozialdemokratisch ausfallen, müßte er mit der Opposition der organisierten Gesellschaft rechnen, prophezeit Abranches. Lula könnte nur dann Unterstützung im Kongreß gewinnen, wenn er sich strikt innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems bewegt.

In den 37 Gemeinden, die in ganz Brasilien von der Arbeiterpartei PT verwaltet werden, ist der Schubs in die politische Mündigkeit bereits Programm. Eliana Katia Tavares Campos, die in der Zweimillionenstadt Belo Horizonte für die städtische Reinigung verantwortlich ist, gerät beim Stichwort ciadadania ins Schwärmen. „Wir haben erst einmal angefangen, die rund 5.000 Arbeitsplätze in der Müllabfuhr aufzuwerten“, erzählt sie stolz. Neben der neuen Uniform mit Turnschuhen und Mütze bekomme das Reinigungspersonal eine Zulage für Essen und Kindergarten. Die Unterkünfte, wo die Straßenfegerinnen bis vor kurzem ihre Kleider in Obstkisten aufbewahrten, wurden mit Kleiderschränken, Duschen, Seife, Handtüchern, ja sogar einem Spiegel ausgestattet. Resultat: „Die Straßen von Belo Horizonte sind wesentlich sauberer als früher, und das gefällt der Bevölkerung“, triumphiert Katia Tavares.

„Wir stellen die Prioritäten auf den Kopf“, erklärte PT-Bürgermeister Patrus Ananias de Souza kürzlich vor den Vereinten Nationen in New York. In der Praxis bedeutet das direkte Bürgerbeteiligung an der Verwendung des städtischen Budgets, Investitionen im sozialen Bereich statt Prestigebauten sowie die Förderung von Kleinbauern aus der Region, um die Nahrungsmittelversorgung in der Stadt zu verbessern.

In diesem Jahr machten bereits 23.000 Einwohner Belo Horizontes von ihrer Mitbestimmung bei der Verteilung des Haushalts Gebrauch. „Die Diskussion unter den Abgeordneten aus den einzelnen Stadtvierteln ist bereichernd“, meint Planungssekretär Paulo Roberto Paixao Bretas. „Manchmal zieht ein Abgesandter seine Forderung nach einem Gesundheitsposten zurück, weil er merkt, daß in einem anderen Stadtviertel die Investition noch dringender ist.“

„In Wirklichkeit“, so Bürgermeister Patrus Ananias, „ist bis jetzt noch keine marktwirtschaftliche Lösung erfunden worden, die das Elend der städtischen Massen und Landlosen kurzfristig mindert.“ Trotz der sozial ausgerichteten Stadtverwaltung der PT leben auch in Belo Horizonte Kinder auf der Straße und Bettler unter den Brücken. Bürgermeister Ananias verdächtigt seine Amtskollegen aus der Umgebung, ausgerechnet vor den Wahlen am 3. Oktober das soziale Netz der Stadtverwaltung überstrapazieren zu wollen. Ananias: „Nach dem Motto ,Besser arm in Belo Horizonte als in Montes Claros‘ spendieren die Nachbargemeinden der armen Landbevölkerung Freifahrtscheine nach Belo Horizonte und entledigen sich ihrer sozialen Probleme auf unsere Kosten.“