Abenteuer New York

...oder die Angst vor dem Überfall. Mit den Themen Kriminalität und Sicherheit wird in der Dienstleistungsgesellschaft Politik gemacht  ■ Von Martin Jahrfeld

Wenn die Sprache auf den Times Square kommt, werden einschlägige New- York-Reisebücher fürsorglich: „Knöpfen Sie Ihre Taschen gut zu, und lassen Sie sich nicht von zweifelhaften Zeitgenossen ansprechen, von denen man nicht weiß, was sie im Schilde führen“, meint etwa der gute alte Baedeker. Soviel Besorgnis scheint übertrieben. Denn nirgendwo sonst in New York, die Aussichtsplattform des Empire State Building ausgenommen, sind Touristen so unter ihresgleichen wie im Theaterbezirk rund um den Times Square. Doch auch wenn dieser Platz abendliches Pflichtprogramm für 17 Millionen auswärtige Besucher im Jahr darstellt, ein Gefühl von Sicherheit schafft die Allgegenwart der eigenen Spezies noch lange nicht. Die Kurzurlauber aus Europa bewegen sich hier mit der gleichen nervösen Wachsamkeit wie das Rentnerehepaar aus Wisconsin: gut zugeknöpft und auf keinen Fall ansprechbar. Und wenn es daheim nicht Kojak war, der einem Respekt vor New York gelehrt hat, dann war es eben Robert De Niro in „Taxi Driver“ oder Charles Bronson in „Ein Mann sieht rot“.

Die Unbeholfenheit, mit der sich amerikanische und ausländische Touristen durch das abendliche Manhattan bewegen, entlockt Einheimischen in der Regel nur ein mildes Lächeln. „It takes a lot to surprise New Yorkers“, sagen die gerne, und tatsächlich gibt es Leute, die meinen, man müsse erst Opfer eines Überfalls geworden sein, bevor man zum echten New Yorker wird. Allerdings gibt es auch jene, die erzählen, daß man spätestens nach dem zweiten Überfall keiner mehr sein will.

Doch das Thema öffentliche Sicherheit hat größere Dimensionen, als solch demonstrative Weltstadt- Coolness vermuten läßt. Begriffe wie Crime und Security sind in den USA spätestens seit den 80er Jahren Wahlkampfthemen allerersten Ranges. Für eine Stadt wie New York, in der es fast keine warenproduzierende Industrie mehr gibt und der städtische Haushalt vornehmlich durch die Steuern von Banken, Versicherungskonzernen und anderen potenten Dienstleistern finanziert wird, steht zudem beim Thema Sicherheit enorm viel Geld auf dem Spiel. Was Firmenvorstände, gutverdienende Angestellte und zahlungswillige Touristen über die Lebensqualität in New York denken, ist von kaum zu unterschätzender Bedeutung für Investitionen und Kapitalzuflüsse. 30.000 Obdachlose, 2.000 jährliche Mordopfer und andere schlagzeilenträchtige New Yorker Tatsachen gelten der Stadtverwaltung vor allem deshalb als Problem, weil sie das subjektive Lebensgefühl einkommensstarker Gruppen stören und damit das beeinträchtigen, was im Bürokraten-Jargon „weicher Standortfaktor“ heißt. Daß die Stadt in den Augen der übrigen Welt so etwas wie einen Kulminationspunkt amerikanischer Großstadtkriminalität darstellt, wofür allein schon solche Namen wie Bronx und Harlem Synonym sind, läßt sich statistisch kaum untermauern, zumal Washington, Atlanta, Detroit, Los Angeles sowie ein halbes Dutzend weiterer US- Städte weitaus höhere Verbrechensraten aufweisen. Doch für New Yorks PR-Strategen wird das internationale Image nicht durch Statistik verbessert, sondern durch hartnäckiges Marketing und positive Berichterstattung in den Massenmedien. Die Tatsache, daß die Stadt in der jüngeren Vergangenheit von spektakulären Gewaltverbrechen gegen Touristen weitgehend verschont geblieben ist, vermag dabei kaum zu beruhigen. Die Mordserie in Florida 1993, bei der innerhalb kurzer Zeit neun amerikanische und europäische Touristen ums Leben kamen, demonstrierte drastisch, wie schnell sich der Ruf einer Touristenregion ruinieren läßt. Internationale Reisestornierungen von 60 Prozent, wie für Miami im vergangenen Jahr, würde man in New York nicht weniger schmerzhaft spüren.

Doch was öffentliche Sicherheit eigentlich ist, woran sie sich messen läßt und durch wen oder was sie gefährdet wird – das ist in New York ein unerschöpfliches Dauerthema, zu dem nicht nur Politiker und Polizeistrategen, sondern auch jeder Taxifahrer und Hot-Dog- Verkäufer ständig Neues beizutragen haben.

Als 1992 Bürgermeiser David Dinkins mit Statistiken vor die Presse trat, die einen mehr als zehnprozentigen Rückgang von Gewaltkriminalität belegen sollten, konterte sein konservativer Herausforderer Rudolph Giuliani, es gehe nicht um Statistik, sondern darum, wie sich die Leute tatsächlich fühlen, wenn sie abends U-Bahn fahren oder nachts den Heimweg antreten. Giuliani sah sich durch Umfragen bestätigt, laut denen 70 Prozent der New Yorker glauben, Lebensqualität, Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung habe sich in ihrer Stadt in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert.

Nachdem Giuliani den schwarzen Demokraten Dinkins im Januar 1994 nach einem knappen Wahlsieg als Bürgermeister abgelöst hat, steht die „Verbesserung der öffentlichen Sicherheit“ ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Mit dem neuen Polizeichef William Bratton aus Boston präsentierte Giuliani einen Hardliner, der bereits auf seiner ersten Pressekonferenz verkündete, er werde die bei vielen weißen New Yorkern als lasch, unmotiviert und korrupt verrufene Polizei gründlich auf Trab bringen. Die Taten, die solchen Ankündigungen folgten, ließen nicht lange auf sich warten. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen verbot die Giuliani- Administration das Betteln in den stadteigenen U-Bahnhöfen und Zügen. Betroffen von diesem Erlaß sind Obdachlose und Wohlfahrtsempfänger, die tagtäglich durch die Waggons laufen, dort in der Hoffnung auf einen Vierteldollar ihre Elendsgeschichte aufsagen und dann in das nächste Abteil weiterziehen.

Auch wenn gewalttätige Übergriffe von dieser Gruppe aus Vietnamveteranen, HIV-Infizierten und Behinderten in der Vergangenheit kaum vorgekommen sind, geht die Stadt davon aus, daß sich die Masse der täglich zwei Millionen U-Bahn-Kunden durch Bettelei bedrängt und in ihrer Sicherheit beeinträchtigt fühlt. Größere Polizeipräsenz und Plakate mit der Aufschrift „Geben Sie nach eigenem Wohlwollen – aber nicht in der Subway!“ sollen seitdem für die Durchsetzung des Verbotes sorgen. Stärker ins polizeiliche Visier genommen werden nun auch lizenzlose Kleinstgewerbler, wie jene Leute, die bei roten Ampelphasen auf wartende Autos zuspringen und die Frontscheiben blankputzen. Auch durch solche Dienstleistungen werde ein latentes Klima von Verunsicherung und Nötigung auf New Yorks Straßen geschaffen, ist die Stadtverwaltung überzeugt. Wenn kleinere Gesetzesverstöße konsequent geahndet werden, entsteht eine allgemeine Atmosphäre von Sicherheit, durch die am Ende auch gefährliche Gewalttäter abgeschreckt werden, lautet das neue polizeistrategische Dogma.

Auch auf dem Washington Square in Greenwich Village, einem beliebten und traditionsreichen Treffpunkt für Müßiggänger, Studenten und Kleinkünstler, ist diese Strategie inzwischen unübersehbar. Ganz so, als sei der Washington Square nicht der straßenkulturelle Nabel Manhattans, sondern der Marktplatz irgendeines Kaffs in Amerikas Mittelwesten, verfolgt die Polizei hier nun seit einiger Zeit konsequent unerlaubtes Radfahren und öffentlichen Alkoholkonsum, Rechtsbelehrung und Strafmandat inklusive. Albert Owens, ein schwarzer Straßenentertainer, der hier bei gutem Wetter seit Jahren mit deftigen Großstadtanekdoten für Volksbelustigung sorgt, macht sich darauf seinen eigenen Reim: Für ihn heißt New Yorks Bürgermeister nicht Rudolph, sondern schlicht Adolf Giuliani – eine böse Pointe über die Arroganz der Weißen, die einer mittellosen schwarzen Unterschicht nicht einmal ihre harmlosen Alltagsvergnügungen gönnt.

Daß Giulianis Konzept der Kriminalitätsbekämpfung am falschen Punkt ansetzt, sich vornehmlich gegen ohnehin benachteiligte Gruppen richtet und in Verbindung mit einer restriktiven Budgetpolitik soziale Spannungen nur verschärft, gilt vielen Kritikern mittlerweile als Konsens. Richtet man den Blick auf New Yorks Immobilienspekulation, das desolate Schul- und Erziehungssystem, die liberalen Waffengesetze, den blutigen Kampf um Drogenmärkte oder den schwierigen Arbeitsmarkt, so scheint es fragwürdig, ob die hiesige Kriminalität allein durch mehr Polizisten und Strafmandate eingedämmt werden kann.

Doch solche Probleme werden von der neuen Administration kaum adressiert. Giuliani schuf zwar neue Jobs bei der Polizei, gleichzeitig jedoch mußten städtische Krankenhäuser und Schulbehörden massive Budgetkürzungen und Entlassungen hinnehmen. New Yorks Touristen unterdessen erfreuen sich an der Schokoladenseite dieser Politik. Denn tatsächlich gibt es nun weniger Bettler, weniger Schmutz und mehr Polizei auf den Straßen Manhattans. Und während die täglichen Morde in den Ghettos meist nur für kurze Berichte auf den hinteren Lokalseiten der New York Times taugen, sind die seltenen schweren Übergriffe auf ausländische Touristen seit neuestem Chefsache. Als im April ein schwedischer Tourist beim Betreten seines Hotelzimmers einen Einbrecher vorfand und dabei krankenhausreif geschlagen wurde, berief der Bürgermeister eilends eine Pressekonferenz ein. Für Touristen gäbe es keinen Grund zu Besorgnis, die Stadt unternehme alles, um auswärtige Besucher zu schützen, erklärte Guiliani bündig.

Doch bisweilen nimmt die unermüdliche Image-Polierung auch skurrile Züge an. Im Frühling erließ die Stadtverwaltung ein Verbot gegen kommerzielle Filmaufnahmen in der U-Bahn. Die schaurig-schönen Subway-Schächte und Waggons der New Yorker Unterwelt, seit Jahrzehnten beliebte Kulisse für Hollywood-Filme und Fernsehserien, sollten nicht mehr für blutrünstige Thriller und Schreckgeschichten mißbraucht werden dürfen. Insbesondere Filme, die ins Ausland gehen, würden dem Ruf der U-Bahn und damit auch der Stadt nachhaltig schaden. Damit jedoch hatte sich Guiliani zu weit aus dem Fenster gelehnt. Eine vom Dienstleistungssektor so vollkommen abhängige Stadt wie New York könne es sich mit einem wirtschaftlichen Giganten wie Hollywood nicht verscherzen, meinten die Kritiker. Das wirtschaftliche Argument triumphierte schließlich über die Image- Sorgen, das Verbot wurde stark abgeschwächt.

Khalil Muhammed, ein Marokkaner aus Casablanca, der hier seit acht Jahren Taxi fährt, kann solchen Lokalpossen nichts abgewinnen. „Für meine Sicherheit hat

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Guiliani noch nichts getan“, meint er zornig und spricht aus, was viele seiner Kollegen denken. 1993 wurden fünfzig New Yorker Taxifahrer während der Arbeit überfallen und getötet. Als im Dezember innerhalb von fünf Tagen drei Fahrer ermordet worden waren, protestierten Hunderte von Kollegen mit einer Autoblockade auf der Fifth Avenue. Die Diskussion um die Sicherheit von Taxifahrern, die durch diese Ereignisse losgetreten wurde, offenbarte, daß in New York seit neuestem zwar viel über Verbrechensprävention und Bürgerschutz geredet wird, aber nur wenig geschieht, wenn es darum geht, wirklich gefährdete Gruppen zu schützen. Ein Taxiüberfall ist in New York für den Täter zweifellos risikoloser als ein Straßenüberfall oder ein Hotelzimmereinbruch. Kaum eines der Yellow Cabs ist mit Funk ausgestattet, und die Bargeldsumme, die Taxifahrer mit sich führen, ist in jedem Fall verlockend. Die Plexiglasscheibe zwischen Fahrer und Rücksitz bietet zwar Schutz vor Messern und Würgegriffen, einer handelsüblichen Schußwaffe jedoch hält sie kaum stand. Die Kosten für kugelsichere Trennscheiben und Funk scheuen nicht nur viele Taxi-Großunternehmer, sondern auch das Heer jener Selbständigen, die sich das Geld für ein eigenes Taxi lange zusammengespart haben und froh sind, wenn sie die laufenden Reparaturen bezahlen können.

Taxifahrer ist in New York ein klassischer Einwandererjob, eine Lizenz so etwas wie eine Eintrittskarte in den amerikanischen Traum. Die Inder, Pakistanis, Kolumbianer, Polen, Senegalesen und Puertoricaner unter ihnen machen sich in der Regel weniger Gedanken um ihr Leben als darüber, wie sie mit den hartverdienten Dollars den Rest der Familie nach New York holen können.

Khalil Muhammed kennt all diese Geschichten in- und auswendig. Und wenn er eines in acht Jahren New York gelernt hat, dann ist es das Mißtrauen gegen Behörden und Politiker. „Oder glaubst du, daß die Stadt mir auch nur einen Dollar zu einer neuen Trennscheibe dazugibt?“ Doch am Ende hat er doch noch eine Idee, wie man das Leben eines New Yorker Taxifahrers wirklich sicher machen kann: Der Taxifahrer sitzt hinten mit einem Revolver in der Hand, und der Kunde lenkt das Auto.